Wir Kinder der Kriegskinder
sehr befreiend für mich, da konnte ich mit vielen Dingen meinen Frieden schließen.“
Nach sieben Jahren hat Alicia ihren Job in der Drogenhilfe nun gekündigt – sie spürt, dass sie dieser Arbeit inzwischen entwachsen ist. Bis sie eine andere Stelle gefunden hat, bemüht sie sich, ihre neu gewonnene Freizeit auch zu genießen. „Ich neige manchmal noch dazu, mich mit dem Minimum zufrieden zu geben“, fügt sie hinzu. „Zu denken: Der Kühlschrank ist voll, die Wohnung ist warm, was will ich eigentlich mehr? Reisen, Hobbies pflegen, sich die Freizeit gestalten – alles, was über das pure Überleben hinausgeht, war mir lange ziemlich fremd. Ich arbeite noch immer daran, mir ein bisschen mehr zu gönnen.“
Von der Hoffnung, irgendwann noch einmal Zuwendung oder Fürsorge von der Mutter zu erhalten, hat Alicia sich noch nicht ganz verabschieden können. Manchmal holt ihre alte Bedürftigkeit sie wieder ein. Jüngst, als sie sich arbeitslos meldete – da hoffte sie auf ein wenig Trost von ihrer Mutter. Doch es kam nichts. „Ich muss in der Beziehung zu ihr immer die Erwachsene bleiben“, erklärt Alicia. „Das ist unheimlich anstrengend. Sonst sitze ich nachher da und bin enttäuscht.“ Noch heute ist es nicht möglich, mit der Mutter darüber zu sprechen. Sie würde es ohnehin nicht verstehen, glaubt Alicia: „Sie hat so viele Sachen, auf die sie noch immer den Deckel hält. Sie ist ja nicht nur Täter, sie ist auch Opfer.“ Für ihr elterliches Versagen in der Vergangenheit will Alicia ihrer Mutter keine Vorwürfe machen. „Das ist vorbei, das kann man jetzt auch nicht mehr ändern“, sagt sie. Nichtverzeihen kann sie der Mutter jedoch, dass diese nie den Versuch unternahm, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. „Wenn sie das getan hätte, würde sie heute vielleicht mehr Frieden spüren“, überlegt Alicia. „Und dadurch wäre auch unsere Beziehung einfacher. Aber so bremst sie sich permanent aus. Das ist schade.“
Alicia ist stolz darauf, es trotz dieses familiären Erbes geschafft zu haben, doch noch ein gutes Leben zu führen. „Meine Eltern haben es mir im Grunde genommen wirklich schwer gemacht“, erklärt sie. „Aber ich habe versucht, gegen meine Depressionen und Lebensängste anzugehen und mich Schritt für Schritt davon zu befreien. Ich habe gemerkt, was mir gut tut – eine Struktur zum Beispiel. Damit bin ich viel weiter als meine Mutter.“
Oft sind es gerade die nicht bewusst erinnerten Erfahrungen der späten Kriegskinder, die sich noch massiv auf die psychische Entwicklung ihrer eigenen Kinder auswirken – das zeigt die Geschichte von Alicia. Vielen anderen Kindern von spät geborenen Kriegskindern wird es wahrscheinlich ähnlich gehen, obwohl es möglicherweise sowohl ihnen selbst als auch ihren Eltern schwerfällt, diese Zusammenhänge zu sehen. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Denn wenn wir erst einmal beginnen, uns mit den Prägungen der Eltern zu beschäftigen, führt dies unweigerlich zu der Erkenntnis, dass trotz aller Verletzungen Fragen von elterlicher Schuld oder elterlichem Versagen nicht mehr so einfach zu beantworten sind.
7. Schuld und Täterschaft
Was der dritten Generation zu tun bleibt
Fragen von Täterschaft, Schuld und Mitläufertum sind in diesem Buch bislang wenig thematisiert worden. Das ist kaum verwunderlich, geht es doch um die Kriegskinder, die in den allermeisten Fällen noch viel zu jung waren, um sich politisch zu positionieren. Die Folgen der nationalsozialistischen Ideologie sind lediglich am Rande aufgetaucht: Etwa in der Geschichte Gerhards, dessen Vater als Kind stark von den Männlichkeitsbildern des Nationalsozialismus geprägt war und nach dem Fall des Dritten Reiches dementsprechend Mühe hatte, die entstandene „Leerstelle“ durch ein positives Männerbild zu ersetzen – mit Folgen für seinen Sohn, dem es ebenfalls schwer fiel, zu einer positiven männlichen Identität zu finden. Oder im Falle Georgs, dessen Vater als 16-Jähriger Ausbilder in einem Hitlerjugend-Trainingscamp war und sich – im Gegensatz zu Gerhards Vater – nie von den Männlichkeitsbildern des Nationalsozialismus hatte lösen können. Seine Kinder erzog er mit derselben Härte, die auch er kennengelernt hatte.
Doch wie sieht es mit der Großeltern-Generation aus? Erstaunlicherweise wussten meine Gesprächspartner so gut wie gar nichts darüber, ob „Oma und Opa“ möglicherweise die Politik der Nationalsozialisten unterstützt hatten
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