Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
Vom Netzwerk:
– oder gar aktiv in kriegsverbrecherische Handlungen involviert gewesen waren. Lediglich eine Gesprächspartnerin konnte berichten, dass ihr Großvater bei der Waffen-SS gewesen sei, doch auch sie hatte keine Informationen über seine Handlungen im Krieg. Schweigen, Tabuisierungen, bisweilen auch familiäre Loyalitäten liegen wie ein Schleier über diesem Aspekt der Vergangenheit. Dass es jedoch wichtigist, sich auch der politischen – konkret: nationalsozialistischen – Vergangenheit der Großeltern-Generation bewusst zu sein, möchte ich in diesem Kapitel zeigen. Denn auch die Taten der Großeltern können lange weiterwirken und unter Umständen Schatten auf die dritte und vierte Generation werfen.

    Doch zunächst ein kurzer Rückblick. Bis heute ist die Anzahl der Menschen, die infolge der kriegerischen Politik der Nationalsozialisten ihr Leben lassen mussten, unübertroffen. Im Zuge des Holocaust ermordeten die Nationalsozialisten sechs Millionen Juden oder „ Judenmischlinge“, also gut ein Drittel aller europäischen Juden, darunter 1,8 Millionen Kinder. Auch Hunderttausende Roma und Sinti, 200.000 körperlich oder geistig Behinderte und etwa 5.000 Homosexuelle kostete der Rassenwahn das Leben. In Polen und der Sowjetunion starben mindestens 3,5 Millionen Zivilisten, Partisanen und vor allem Kriegsgefangene durch die Verbrechen der Wehrmacht. In der Vorkriegszeit waren bereits 20.000 politische Regimegegner – meist Angehörige der Linksparteien – und etwa 1.200 Zeugen Jehovas ermordet worden.
    Schätzungen zufolge fanden während des Zweiten Weltkriegs weltweit 55 bis 60 Millionen Menschen den Tod: Soldaten, Zivilisten, Verfolgte.

    Die Frage, wer die Verantwortung für die zahllosen Morde der Nationalsozialisten trägt, wird heute lebhaft diskutiert. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entschloss sich die breite Öffentlichkeit zu glauben, dass nur ein paar Tausend Psychopathen unter Anleitung einiger Kriegsverbrecher um Adolf Hitler für die Taten der Nationalsozialisten zur Verantwortung zu ziehen waren. Gestapo und SS wurden als Haupttätergruppen ausgemacht, pathologisiert und so aus der bürgerlichen deutschen Gesellschaft hinauskatapultiert. In den 1960er Jahren dann erschien im Zuge des Eichmann-Prozesses ein neues Täterbild: das desemotionslosen, pragmatischen Schreibtischtäters. „Beide Diskurse entpuppten sich jedoch als zwei Seiten derselben Medaille“, erklärt der Kölner Bildungsforscher Wolfgang Gippert. „Sie dienten der Distanzgewinnung gegenüber den Tätern und ihren konkreten Taten sowie der Selbstentlastung großer Bevölkerungsteile der deutschen Gesellschaft.“ (Gippert: Neue Tendenzen in der Täterforschung)
    Erst in den 1990er Jahren begann sich eine neue Art der NS-Täterforschung zu etablieren: Im Zuge der „Goldhagen-Debatte“, der Wehrmachtsausstellungen und der Publikation von Christopher R. Brownings Buch Ganz normale Männer – worin der amerikanische Historiker zu erklären versuchte, wie situative Faktoren und allgemeine Eigenschaften der menschlichen Natur, wie sie etwa aus der Dynamik des Gruppenverhaltens erwachsen, „normale Männer“ zu nationalsozialistischen Mördern werden ließen – rückte auch der Durchschnittsdeutsche ins Visier der Historiker.
    Die neue Täterforschung widmet sich seitdem verstärkt diesem Ansatz und kommt immer wieder zum Ergebnis, dass die Mitglieder der Tötungseinheiten, ob in den Konzentrationslagern, bei der Gestapo, der SS oder Wehrmacht, aus allen Reihen der deutschen Bevölkerung stammten. „Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich als resistent“, schreibt der Flensburger Historiker Gerhard Paul in seinem Buch Die Täter der Shoah. Die Täter und Täterinnen waren in der Mehrzahl tatsächlich „ganz normale Deutsche“. Und anscheinend gelang es den meisten von ihnen, ihr Leben später ohne größere Schuldgefühle fortzusetzen. In seinem Buch Täter findet der Sozialpsychologe Harald Welzer dafür folgende Erklärung: „Der Grund dafür, dass die weit überwiegende Zahl der Täter an ihrer Aufgabe nicht zerbrach, obwohl viele von ihnen vielleicht tatsächlich gegen ihr ‚eigentliches‘ Empfinden töteten, liegt darin, dass die Tötungsmoral des Nationalsozialismus sowohl persönlicheSkrupel als auch das Leiden an der schweren Aufgabe des Tötens normativ integriert hatte.“
    Historiker schätzen, dass die Anzahl der in die

Weitere Kostenlose Bücher