Wir Kinder der Kriegskinder
ist die Geschichte der Journalistin und Autorin Alexandra Senfft, 1961 geboren, die in ihrem Buch Schweigen tut weh beschreibt, wie die dunkle Vergangenheit ihres Großvaters Hanns Ludin auch sie prägte. Als „Gesandter des Großdeutschen Reiches in der Slowakei“ war Ludin verantwortlich für die Enteignung und Deportation von zehntausenden Juden und wurde deshalb 1947 von den Alliierten hingerichtet. Innerhalb seiner Familie galt der SA-Mann jedoch bis zum Tode seiner Ehefrau Erla im Jahr 1997 als „guter Nazi“. Senffts Mutter Erika, 1933 als älteste Tochter Ludins geboren, rüttelte Zeit ihres Lebens nicht an diesem Vaterbild. Die zwiespältige Liebe zu ihrem Vater führte schließlich zu schweren Depressionen und Alkoholsucht.
„Hätte sie sich eingestanden, dass er ein Kriegsverbrecher war, hätte sie einen Bruch mit ihrer Familie riskiert – doch aus diesem Netz von Abhängigkeiten konnte sie sich nie befreien“, glaubt ihre Tochter Alexandra Senfft. „Die Verdrängung und unbewussten Schuldgefühle haben sich dann in ihrer Selbstzerstörung symptomatisch gezeigt. Und durch diese Krankheit hat meine Mutter ihre Abhängigkeit an uns Kinder weitergegeben.“
Das unverarbeitete Familientrauma wirkte bis in die dritte Generation: Als Kind fühlte sich Alexandra Senfft für die instabile Mutter verantwortlich, später ging sie aus Selbstschutz auf Distanz zu ihr. Auch in beruflicher Hinsicht prägte dieGeschichte des Großvaters die Enkelin. Senfft sieht einen klaren Zusammenhang zwischen ihrem früheren Engagement als UN-Pressesprecherin im Gazastreifen und der Nazi-Vergangenheit des Großvaters: „Meine Bemühungen um einen Dialog zwischen Israelis und Palästinensern hatten sicherlich mit dem Bedürfnis zu tun, Gespaltenes wieder zusammenzubringen“, glaubt sie. Eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Großvaters und somit auch ein Stück Selbsttherapie war für Alexandra Senfft jedoch erst nach dem Tod von Großmutter und Mutter möglich. Heute plädiert sie für eine konsequentere Aufarbeitung des Nationalsozialismus innerhalb aller deutschen Familien: „Das Schweigen unserer Eltern hat sich auf unsere Generation übertragen, die Loyalität gegenüber Familienmitgliedern verhindert Aufklärung und macht uns so unbewusst zu Komplizen. Wir merken oft nicht, wie verstrickt wir noch sind und haben Verhaltensweisen übernommen, die wir nicht mehr mit dem Krieg in Verbindung bringen.“
Zu welchen Konflikten es führen kann, wenn sich ein Teil der Familie entschließt, in die Vergangenheit zu schauen, erfuhr ich im Zuge der Recherchen zu diesem Buch. Als im Frühjahr 2007 die Wohnung meiner Großeltern mütterlicherseits aufgelöst wurde, standen wir Nachkommen plötzlich vor einem großen Stapel von Tagebuchaufzeichnungen, Fotoalben und Akten meiner Großeltern aus Kriegszeiten. Uns war keinesfalls unbekannt gewesen, dass diese Akten existierten: Meine Großeltern hatten sie für uns alle sichtbar im Esszimmer aufbewahrt. Ein Teil der Familie begann, die zahlreichen Aufzeichnungen, Fotografien und Dokumente durchzusehen. Sie belegten sehr genau, dass meine Großeltern zumindest bis Anfang der 1940er Jahre vom Nationalsozialismus begeistert gewesen waren: Wie so viele andere Deutsche auch, waren sie Mitläufer gewesen, die sich weder an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt, noch Widerstand geleistet hatten.
Doch warum hatten wir, ihre Kinder und Enkel, diese persönlich und zeithistorisch interessanten Dokumente so lange ignoriert? An einer blockierenden Haltung meiner Großeltern kann es nicht gelegen haben: Die Existenz der Alben hatten sie nie verschwiegen, im Gegenteil, mein Großvater hatte meiner Schwester irgendwann in den frühen 1990ern sogar seine in Sütterlin verfassten Tagebücher aus Kriegszeiten gezeigt und vorgelesen. Ich vermute stattdessen, dass wir Nachkommen gar nicht so genau hatten wissen wollten, was „Oma und Opa“ im „Dritten Reich“ gemacht hatten. Unbewusst hatten wir wohl befürchtet, dem positiven Bild meiner Großeltern als Mittelpunkt unserer Familie sonst Kratzer zufügen zu müssen. Als wir jedoch begannen, uns mit der Vergangenheit meiner Großeltern zu beschäftigen, stellten wir fest, dass es sehr wohl möglich ist, die Ambivalenz auszuhalten, dass „Oma und Opa“ sowohl Träger des nationalsozialistischen Regimes als auch engagierte und liebevolle Großeltern gewesen waren. Obgleich schmerzlich, führte die Auseinandersetzung uns
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