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Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Titel: Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane F.
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Hau. Und ich überlegte jetzt nur noch, wie ich es vor den Ärzten und Schwestern verbergen konnte, dass ich echt nicht normal war.
    Diese Schwestern behandelten mich wie eine Idiotin, also wie die anderen Idioten auch. Ich nahm mich unheimlich zusammen, um nicht mehr aggressiv auf sie zu reagieren. Wenn die Ärzte kamen und Fragen stellten, versuchte ich nur Antworten zu geben, die ich normalerweise nie gegeben hätte. Ich versuchte krampfhaft, nicht ich selber zu sein, sondern irgendeine andere Person, die ganz normal war. Und wenn die Ärzte dann wieder weg waren, dachte ich, dass ich genau das Falsche gesagt hatte. Dass die mich jetzt für total bekloppt halten.
    Das Einzige, was sie mir an Therapie anboten, war Stricken. Darauf hatte ich nun echt keinen Bock. Ich glaubte auch nicht, dass mir das helfen würde.
    Vor den Fenstern waren natürlich Gitter. Aber keine normalen Gitter wie im Knast, weil es ja kein Knast war, sondern schön verschnörkelte Gitter. Ich kriegte raus, wie man durch eine bestimmte Drehung den Kopf durch diese Schnörkel bekam und dann richtig aus dem Fenster sehen konnte. Ich stand da manchmal echt stundenlang, die Eisengitter um den Hals, und guckte nach draußen. Es wurde allmählich Herbst, die Blätter wurden gelb und rot, die Sonne stand schon ziemlich tief und schien jeden Tag etwa eine Stunde zwischen zwei Bäumen durch, genau in das Fenster.
    Manchmal band ich eine der Blechtassen an eine Wollschnur, ließ sie aus dem Fenster baumeln und schlug sie gegen die Hauswand. Oder ich versuchte einen ganzen Nachmittag vergeblich, mit der Wollschnur einen Zweig ranzuziehen, um ein Blatt abzupflücken. Abends dachte ich: Wenn du noch nicht irre warst, bist du es hier garantiert geworden.
    Ich durfte nicht mal in den Hausgarten, um mit den Omas im Kreis rumzugehen. Jeder Terrorist hatte ein Recht darauf, einmal am Tag an die frische Luft zu kommen. Ich nicht. Bei mir bestand Fluchtgefahr. Hatten sie ja recht.
    Ich fand in einem Schrank einen alten Fußball. Den schoss ich immer wieder gegen eine abgeschlossene Glastür und hoffte, dass die Glastür kaputtging. Bis sie mir den Fußball wegnahmen. Ich rannte mit dem Kopf gegen Scheiben. Aber die waren natürlich überall aus Panzerglas. Ich fühlte mich wie ein Raubtier in einem winzigen Raubtierkäfig. Ich tigerte stundenlang die Wände entlang. Einmal dachte ich, ich hielte das nicht aus. Ich müsste einfach rennen. Und da rannte ich einfach los. Immer den Flur rauf und runter. Bis ich absolut nicht mehr konnte und regelrecht zusammenbrach.
    Ich ergeierte ein Messer und kratzte nachts zusammen mit Liane den Kitt aus einem verriegelten, aber nicht vergitterten Fenster. Die Scheibe rührte sich keinen Millimeter. Die nächste Nacht bauten wir ein Bett auseinander und versuchten, das Gitter eines offenen Fensters rauszubrechen. Die Omis im Zimmer hatten wir vorher so eingeschüchtert, dass sie sich nicht zu mucksen wagten. Manche hielten uns ja tatsächlich für Terroristen. Das Unternehmen war natürlich total sinnlos und machte so viel Krach, dass uns die Nachtwache erwischte.
    So wie ich mich in dieser Irrenanstalt benahm, hatte ich keine Hoffnung mehr, dass die mich wieder rausließen. Ich kam immer weiter runter. Mein Körper baute nur scheinbar auf ohne Drogen. Ich bekam eine dicke Wampe. Mein Gesicht war käsig, eingefallen und gleichzeitig aufgeschwemmt und im Spiegel kam es mir vor wie das Gesicht von einer, die schon ihre fünfzehn Jahre auf Bonnies Ranch abgerissen hat. Ich schlief kaum noch. Es war auch fast jede Nacht was los auf der Station. Und ich dachte immer, ich verpasste eine Gelegenheit zur Flucht. Obwohl alles ganz hoffnungslos war, machte ich mich jeden Morgen zurecht, als würde ich gleich auf die Szene fahren. Ich bürstete meine Haare mit unheimlicher Ausdauer und schminkte mich und zog mir meine Jacke über.
    Einmal kam wenigstens jemand vom Jugendamt. Der sagte auch nur: »Wir wollen mal sehen.« Aber über ihn erfuhr ich wenigstens, in welchem Knast Detlef war und welches Aktenzeichen er hatte. Ich setzte mich sofort hin und schrieb einen seitenlangen Brief. Und als ich den abgegeben hatte, fing ich gleich einen neuen an. Ich konnte mal wieder richtig losquatschen. Ausquatschen durfte ich mich allerdings in den Briefen auch nicht. Denn die wurden ja gelesen. Wahrscheinlich schon bei Bonnies, mit Sicherheit aber im Knast. Ich musste in den Briefen also wieder fleißig lügen. Dass ich überhaupt kein Verlangen nach

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