Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
wirklich nicht für Kriminelles geboren bin, weil ich dazu nie die Nerven hatte. Als mich Fixertypen mal mit zu einem Einbruch mitnehmen wollten, kniff ich. Meine größte Tat war, nach fast einer ganzen Flasche Wermut mit einem Schlagring eine Autoscheibe einzuschlagen und ein Kofferradio zu klauen. Ansonsten half ich Fixern, die geklauten Sachen zu verhehlen. Ich transportierte heiße Ware auch von gewöhnlichen Kriminellen. Ich brachte Geklautes in die Schließfächer am Bahnhof Zoo und holte es auch wieder ab. Ich bekam dafür höchstens zwanzig Mark. Dabei war das gefährlicher als Klauen. Aber ich hatte ja sowieso keinen Durchblick mehr.
Zu Hause belog ich meinen Vater und stritt mich mit Stella. Ich hatte mit Stella ausgemacht, dass wir uns die Jobs aufteilen und auch das Dope. Darüber gab es dann den meisten Streit. Weil jede von uns glaubte, die andere linke sie ab. Unter dieses Leben, das ich führte, ging nichts mehr drunter.
Mein Vater wusste natürlich schon längst wieder, was mit mir los war. Er war aber mittlerweile voll ratlos. Ich auch. Ich wusste allerdings, dass mir meine Eltern nicht mehr helfen konnten.
Ich brachte die Schule nicht mehr. Auch wenn ich da nur rumsaß. Ich konnte das Rumsitzen nicht mehr ertragen. Ich konnte überhaupt nichts mehr ertragen. Ich konnte nicht mehr mit einem Freier rummachen, ich konnte nicht mehr relaxed auf der Szene rumflippen, ich hielt meinen Vater nicht mehr aus.
Es war also wieder mal so weit. Weltuntergangsstimmung. Selbstmordgedanken. Ich kannte das ja schon, dass es überhaupt nicht mehr weiterging. Aber ich war noch immer zu feige, mir den Goldenen Schuss zu setzen. Ich suchte noch immer nach irgendeinem Ausweg.
Da dachte ich, dass ich freiwillig in die Irrenanstalt gehen könnte. In die Bonhoeffer-Heilanstalten, also Bonnies Ranch. Das war so ungefähr das Letzte, was ein Fixer machen konnte. Bonnies Ranch war der totale Horror für jeden Fixer. Es hieß immer: lieber vier Jahre Knast als vier Wochen Bonnies Ranch. Einige Fixer waren nach einem Zusammenbruch zwangsweise eingeliefert worden in Bonnies Ranch und erzählten später die tierischsten Horrorgeschichten.
Aber ich dachte voll naiv, wenn ich mich freiwillig diesem Horror auslieferte, dann würde irgendjemand auf mich aufmerksam. Dann müßte das Jugendamt oder wer auch sonst merken, dass da eine Jugendliche war, die dringend Hilfe brauchte. Und dass die Eltern total unfähig waren, dieser Jugendlichen zu helfen. Der Entschluss, freiwillig nach Bonnies Ranch zu gehen, war wie ein Selbstmordversuch, bei dem man heimlich hofft, doch wieder aufzuwachen, damit hinterher alle sagen: Die Ärmste, hätten wir uns doch nur genug um sie gekümmert, wir werden jetzt nie wieder so hässlich zu ihr sein.
Als ich den Entschluss gefasst hatte, ging ich zu meiner Mutter. Sie behandelte mich zunächst sehr kühl, weil sie mich ja irgendwie wohl doch abgeschrieben hatte. Ich fing sofort an zu weinen, echt an zu weinen. Dann habe ich versucht, ihr meine Geschichte zu erzählen, ziemlich wahrheitsgetreu. Da hat sie auch geweint und mich in den Arm genommen und nicht wieder losgelassen. Wir haben uns beide richtig happy geweint. Meine Schwester war auch ganz glücklich, dass ich wieder da war. Wir schliefen zusammen in meinem alten Bett. Ich kam bald auf Turkey.
Ein neuer Entzug fing an. Ich wusste gar nicht mehr, der wievielte Entzug es war. Ich war mittlerweile wahrscheinlich Weltmeister im Entziehen. Jedenfalls kannte ich niemanden, der so oft freiwillig entzog wie ich. Und so ohne jede Erfolgsaussicht. Es war beinah wie beim ersten Entzug. Meine Mutter nahm sich wieder frei und brachte mir, was ich wollte: Valium, Wein, Pudding, Obst. Am vierten Tag brachte mich meine Mutter dann nach Bonnies Ranch. Ich wollte das echt, weil ich ja mittlerweile wusste, dass ich sonst schon am nächsten Tag wieder gedrückt hätte.
Ich musste mich da gleich nackend ausziehen und wurde in ein Badezimmer geschoben. Wie der letzte Aussätzige. In zwei Badewannen wurden da gerade zwei reichlich irre Omas gebadet. Mich steckten sie in die dritte Badewanne und da musste ich mich dann unter Aufsicht abschrubben. Meine Sachen bekam ich nicht wieder. Ich kriegte stattdessen eine Unterhose, die mir von den Rippen bis in die Kniekehlen ging und die ich immer festhalten musste, damit sie nicht rutschte. Und ein ziemlich altes Oma-Nachthemd. Ich kam auf die Wachstation zur Beobachtung. Da war ich die Einzige unter sechzig. Die Omis
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