Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
seien noch nicht so weit. Als Christiane anfing, sich zu isolieren, als sie immer häufiger den Kontakt zur Familie mied und an den Wochenenden lieber mit Freunden loszog, anstatt mit uns etwas zu unternehmen, da hätte ich nachhaken müssen mit »warum« und »weshalb«. Ich habe zu vieles auf die leichte Schulter genommen.
Wenn man berufstätig ist, achtet man wahrscheinlich nicht sorgfältig genug auf seine Kinder. Da will man selber seine Ruhe haben und ist ganz froh, wenn die Kinder ihre eigenen Wege gehen. Sicher, manchmal kam Christiane zu spät nach Hause. Doch sie hatte immer Ausreden parat und ich habe sie ihr allzu bereitwillig geglaubt. Ich hielt solche Unregelmäßigkeiten ebenso wie ihr mitunter recht widerspenstiges Gehabe für eine ganz normale Entwicklungsphase und dachte, das geht vorüber.
Ich wollte Christiane zu nichts zwingen. Damit hatte ich am eigenen Leib die schlimmsten Erfahrungen gemacht. Mein Vater war überaus streng. In dem hessischen Dorf, in dem ich aufwuchs, war er als Steinbruchbesitzer ein geachteter Mann. Doch seine Erziehung bestand nur aus Verboten. Über Jungen durfte ich nicht einmal reden, sonst setzte es Ohrfeigen.
Ich erinnere mich noch genau an einen Sonntagnachmittagsspaziergang mit einer Freundin. Weit mehr als hundert Meter hinter uns gingen zwei junge Männer. Da kam mein Vater zufällig vom Fußballplatz vorbei, hielt an und klatschte mir eine auf der Straße. Er zerrte mich in sein Auto und nahm mich mit nach Hause. Nur weil hinter uns die jungen Männer gingen. Das hat mich sehr bockig gemacht. Sechzehn Jahre war ich damals und ich habe gedacht: Wie kommst du hier bloß raus?
Meine Mutter, ein herzensguter Mensch, hatte nichts zu sagen. Ich durfte nicht einmal meinen Berufswunsch verwirklichen und Hebamme werden. Mein Vater bestand darauf, dass ich einen kaufmännischen Beruf erlerne, um ihm die Buchführung machen zu können. Zu dieser Zeit lernte ich Richard kennen, meinen späteren Mann. Er war ein Jahr älter als ich und machte eine Lehre als Landwirt. Er sollte Gutsverwalter werden. Auch auf Wunsch seines Vaters. Anfangs war es nur eine Freundschaft zwischen uns. Doch je mehr mein Vater unternahm, um sie kaputt zu machen, umso dickköpfiger wurde ich. Ich sah nur einen Ausweg: schwanger zu werden, um heiraten zu müssen und um so endlich meine Freiheit zu haben.
Mit achtzehn Jahren war es so weit. Richard brach sofort seine Lehre ab und wir zogen nach Norddeutschland in den Ort, wo seine Eltern wohnten. Die Ehe war ein einziges Fiasko, von Anfang an. Schon während der Schwangerschaft konnte ich nicht mit meinem Mann rechnen, er ließ mich nächtelang alleine. Er hatte nur seinen Porsche und hochfliegende Pläne im Kopf. Keine Arbeit war ihm recht. Er wollte unbedingt etwas Besseres sein und bei anderen Leuten etwas gelten. Er sprach gern davon, dass seine Familie vor dem Krieg auch etwas dargestellt habe. Seine Großeltern besaßen in Ostdeutschland eine Tageszeitung, ein Juweliergeschäft und eine Metzgerei. Und Landbesitz hatten sie auch noch.
Das war wohl sein Maßstab. Er wollte sich unbedingt selbstständig machen, wollte Unternehmer werden wie seine Vorfahren. Mal träumte er davon, eine Spedition zu gründen, mal wollte er einen Autohandel aufmachen, mal mit einem Bekannten ein Garten-und Landschaftsbau-Unternehmen gründen. Tatsächlich kam er nie über Anfangskontakte hinaus. Seinen Ärger ließ er zu Hause an den Kindern aus, und wenn ich dazwischenging, wurden die Auseinandersetzungen sogar recht handgreiflich.
Das Geld, das wir zum Leben brauchten, habe hauptsächlich ich verdient. Als Christiane vier Jahre alt war, bekam ich einen sehr guten Job in einer Ehevermittlung. Wenn am Wochenende Verträge abzuschließen waren, half Richard mit. Das ging zwei Jahre einigermaßen gut. Dann legte sich Richard mit dem Chef an und ich verlor den Job. Richard wollte jetzt selber ein Eheinstitut im großen Stil eröffnen. Als Firmenwohnsitz wählte er Berlin.
1968 zogen wir um. Mit dem Ortswechsel hoff te ich auch auf einen Neubeginn unserer Ehe. Doch statt in repräsentativen Wohn-und Geschäftsräumen landeten wir in zweieinhalb Zimmern in der Gropiusstadt am Rande von Berlin. Richard hatte das notwendige Startkapital nicht auftreiben können. Alles war wieder beim Alten. Richard ließ seine Wut an mir und den Kindern aus und jobbte bestenfalls einmal als Kaufmann. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden, auch einer dieser kleinen Leute zu sein,
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