Wir Kinder von Bergen-Belsen
Familie weinten. Ihre Mutter versuchte, sie zu beruhigen. Entschuldigend sagte sie, die Kinder seien aus dem Schlaf geweckt worden.
Der Lastwagen kam am Bahnhof an, wir mussten absteigen. Einer nach dem anderen wurden wir zum Bahnhof gebracht. Der SS-Offizier führte Sonja von uns weg zu einer Bahnhofstheke, an der ein paar hochrangige SS-Männer zusammenstanden. Dann wies man uns einer Gruppe von Menschen zu. Obwohl über tausend Menschen zusammenstanden, lag eine unnatürliche Stille über allem. Wir unterhielten uns nur flüsternd. Es sah aus, als seien alle noch verbliebenen Juden Amsterdams bei dieser Razzia aufgegriffen worden. Sogar der Präsident des Judenrats, Abraham Asscher, und das Ratsmitglied Abraham Soep mit ihren Familien waren abgeholt worden. Bald entdeckten wir auch Freunde. Immer mehr Menschen wurden zum Bahnhof gebracht. Um acht Uhr glich die Halle einem Ameisenhaufen. Menschen, junge und alte, Säuglinge und Kinder standen dicht zusammengedrängt beieinander. Einige waren zu Verwandten gegangen, die bei einer anderen Gruppe standen. Gerüchte machten den Umlauf. Manche sagten, wir würden nach Portugal gehen, andere, dass Hitler befohlen hatte, alle in Amsterdam zurückgebliebenen Juden zu ermorden. Wir wussten nicht, was wir glauben sollten, wir wurden zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her gerissen.
Die Zeit verstrich. Gegen neun standen wir noch immer in der Bahnhofshalle, aber die ursprünglichen Gruppen hatten sich aufgelöst und neue waren entstanden. Die SS-Bewacher befanden sich außerhalb des Bahnhofs.
Neben dem Schalter konnten wir Sonja stehen sehen, die Hände hinter dem Rücken, mit dem Gesicht zur Wand. Wir gingen nicht zu ihr hin, denn wir hatten Angst, die Situation könnte sich für sie nur noch verschlimmern. Also winkten wir ihr von weitem zu. Alle hatten nur einen Gedanken: Wann würde der Zug kommen?
»Hetty«, hörte ich jemanden rufen. Ich drehte mich um und sah einen besonders guten Freund.
»Herman, was machst du hier? Haben sie dich auch geschnappt?« Ich ging seit Jahren mit Herman in die Schule. Er trug mir die Schultasche, und in der Sporthalle wurden wir immer als Team zusammengespannt, weil wir die beiden Jüngsten waren.
»Ja«, sagte Herman. »Sie sind um zwei Uhr nachts gekommen und wir sind schon seit drei Uhr hier.«
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte ich. »Ist alles in Ordnung?«
»Es geht ihr gut«, sagte Herman. »Aber mein Vater nimmt es sehr schwer. Ich muss dir etwas Komisches erzählen. Dort ist ein Mann, der behauptet, der Zug würde nicht kommen, weil er einen platten Reifen habe.« Wir lachten. Es war gut, zu lachen, mitten in all diesem Elend.
»Weißt du, wohin wir gebracht werden, Herman?«, fragte ich.
»Ich kann es auch nur raten, genau wie du, aber ich glaube, wir gehen nach Westerbork. Hör zu, Hetty, wenn du im Zug eine Chance dazu hast, dann bitte deine Mutter, dir die Haare kurz zu schneiden. Denn wenn wir in Westerbork ankommen, wirst du eine Gesundheitskontrolle bei einem deutschen Arzt über dich ergehen lassen müssen. Wenn er glaubt, dass deine Haare nicht sauber sind, werden sie dir alle abrasiert.«
»Das ist aber nicht wahr.«
»Doch Hetty«, sagte er. »Natürlich ist es schlimm, sie zu kürzen, aber du solltest kein Risiko eingehen, dass man sie dir ganz abschneidet.« Ich war verzweifelt. Meine Haare! Meine schulterlangen Haare sollten abgeschnitten werden.
Bevor ich mich beruhigen konnte, war ein Pfeifen zu hören, und aus dem Lautsprecher kam eine Stimme, die verlangte, wir sollten still sein. In der Halle wurde es sehr ruhig, niemand bewegte sich. Es war ein Moment, in dem man die Anspannung förmlich spüren konnte. »Juden, nehmt eure Koffer und geht zum Bahnsteig drei, von wo aus euch ein Zug nach Westerbork bringt. Gruppe A zuerst, dann Gruppe B.«
In der großen Halle entstand ein Chaos. Leute liefen überall herum, um zu ihren Gruppen zurückzufinden. Mütter suchten nach ihren Kindern, die sich entfernt hatten, Väter kämpften mit dem Gepäck der Familie. Schon waren Gruppe A und B durch die Drehkreuze gegangen, C und D folgten. Wir gehörten zur Gruppe W, deshalb hatten wir es noch nicht so eilig. Als Gruppe S vorbeiging, rief Herman mir zu: »Hetty, wir sehen uns in Westerbork. Und denk dran, was ich dir gesagt habe.«
Dann bat mich Mutter um meine Aufmerksamkeit. »Wenn wir gehen, Hetty, dann nimm Jackie an die Hand, damit er in dem Gedränge nicht verloren geht. Wir müssen versuchen,
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