Wir Kinder von Bergen-Belsen
so alt wie ich und groß, gut entwickelt für ihr Alter und schon sehr erfahren. Etwa vier Wochen vor der Befreiung war sie nach Bergen-Belsen gekommen und hatte die langen Monate des Mangels, des Hungers und der Verzweiflung nicht miterlebt. Auch mit Typhus hatte sie sich nicht angesteckt. Sie war robust und energisch. Wir konnten uns mit unserem sehr kleinen deutschen Wortschatz nur mühsam verständigen. Als sie ins Zimmer kam, holte sie eine Schachtel
Zigaretten nach der anderen aus ihren Taschen und aus ihrer Bluse und legte sie auf ihr Bett. Ich beobachtete sie erstaunt.
»Was tust du mit all den Zigaretten?«, fragte ich. »Rauchst du?«
»Nein«, sagte sie. »Aber wenn ich mit diesen Zigaretten nach Hause komme, sind sie viel Geld wert und ich kann Essen dafür kaufen. Ich frage jeden Soldaten nach Zigaretten.«
Daran hatte ich nie gedacht. Kinder aus Osteuropa waren viel gerissener als wir, die wir aus dem Westen kamen. Ich hatte das Gefühl, als hätten wir völlig verschiedene Mentalitäten. Das war mir schon in Bergen-Belsen klar geworden. Ich erinnerte mich noch genau an die Polin, die einmal in der Baracke an die Esszimmertür geklopft hatte. Ich hatte aufgemacht und eine Frau gesehen, die etwas trug, was in ein schneeweißes Tuch eingewickelt war.
»Fleisch«, flüsterte sie und lüftete einen Zipfel des Tuchs, um ein wunderbares Herz freizulegen. In meiner Unschuld kam es mir nicht in den Sinn, dass irgendetwas damit falsch sein könnte, deshalb rief ich Schwester Luba. Diese kam zur Tür und fragte die Frau, was sie wolle, doch als ihr das Herz gezeigt wurde, explodierte sie vor Wut und jagte die Frau sofort weg. Dann sagte sie zu mir, ich müsse sehr vorsichtig sein, das sei ein menschliches Herz gewesen. Da erst verstand ich. Wo sonst hätte die Frau ein Herz herbekommen können? In der Küche der Gefangenen gab es solches Essen nicht.
Meine Gedanken kehrten zur Gegenwart zurück, und als das ungarische Mädchen, deren Namen ich nicht wusste, die Zigaretten in einen schon fast vollen Kissenbezug stopfte, beschloss ich, ebenfalls um Zigaretten zu bitten, die ich mit nach Hause nehmen könnte.
Ich saß in der Diele auf einem Stuhl. Mein rechter Arm tat weh, weil ich seit drei Tagen ununterbrochen geschrieben hatte. Jaap Ebeling Koning war eines Tages gekommen und hatte mich gefragt, ob ich das, was ich in Bergen-Belsen erlebt hatte, aufschreiben könne. Er erklärte, es sei ein Wunsch des englischen Militärhauptquartiers, man wolle sichergehen, dass die Schrecken des Lagers für die Zukunft festgehalten würden. Wie hätte ich unseren Befreiern diesen Wunsch abschlagen können? Ich stimmte also zu, und Jaap brachte mir einen Stift und Papier und richtete mir einen Platz in einem kleinen Raum neben der Treppe her. Dort war ich ungestört. Ab und zu brachte mir eine Krankenschwester eine Tasse Tee oder ein belegtes Brot. Sie fragten, wie ich vorwärts komme, und sagten, ich solle mir Zeit lassen. Nun war ich fertig mit meiner Geschichte und bereit, sie Jaap zu übergeben.
Ich wurde noch immer schnell müde und konnte nicht viel essen. Die Roten-Kreuz-Schwestern gaben sich große Mühe, eine wie die andere, um mich zu ein bisschen Haferbrei oder sonst etwas zu überreden, wozu ich Lust haben könnte. Eines Morgens bat ich um ein Spiegelei. Während der vielen Monate im Lager hatte ich mich immer nach einem Ei gesehnt. Die Schwester, die neben mir saß, lächelte glücklich, als sie meine Bitte an den Koch weitergab. Aber als es ein paar Minuten später kam, brachte ich es nicht runter. Beim Geruch nach Essen wurde mir schlecht, und keine Überredungskünste konnten mich dazu bringen, das Ei zu probieren.
Von meinem Platz in der Diele konnte ich durch die offene Haustür die Kinder auf dem Rasen spielen sehen. Max und Jackie waren mit ein paar anderen Kindern morgens losgezogen, um die Gegend zu erforschen, wie sie es nannten. Ab und zu kamen sie zurück und berichteten mir, was sie gesehen und erlebt hatten. Iesie erzählte von einem großen englischen Soldaten mit strahlend roten Haaren, der Onkel Tinus heiße, und drängte mich, schnell gesund zu werden, damit ich ihn besuchen könne.
Das Nieselwetter hielt an, trotzdem beschloss ich, ein bisschen hinauszugehen und frische Luft zu schnappen. Ein paar
Engländer stellten Schaukeln für die Kinder auf. Sie waren wundervoll, unsere Befreier. Ich schaute eine Weile zu, doch dann spürte ich, wie die Kälte durch meine Kleider drang, und ging
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