Wir Kinder von Bergen-Belsen
ich mich vom Bett auf den Stuhl daneben gleiten. Von da aus konnte ich, indem ich mich an der Pritsche festhielt, leicht den Boden erreichen. Ich stand etwas wacklig auf den Beinen. Der Rock schlackerte um meine Knöchel, und erst da fiel mir auf, wie sehr ich abgenommen hatte, der Rock war mir viel zu groß geworden. Mein Mantel hing an meinem Bettende, und ich erinnerte mich, dass unter dem Kragen eine Sicherheitsnadel war, die ich benutzt hatte, um beim Zählappell den Kragen gegen den kalten Wind hochzustellen. Ich nahm die Sicherheitsnadel ab und benutzte sie jetzt, um meinen Rock zu halten.
So weit gekommen, versuchte ich zu gehen, aber meine Beine waren wie aus Gummi. Ich konnte kaum stehen, stützte mich an den Pritschen auf beiden Seiten ab und bewegte vorsichtig die Füße.
»O Hetty, ich freue mich, dass du aufstehen kannst«, sagte Leni, die meine Fortschritte von ihrem Bett aus beobachtete.
Ich lächelte zu ihr hinauf, als ich mich langsam vorbeischob. Inzwischen hatte ich die Tür erreicht und betrat den Korridor. Niemand war zu sehen. Ich wandte mich zum Esszimmer, dabei stützte ich mich an der Wand ab. Das Esszimmer war leer, alle waren draußen. Ich beschloss, zur Toilette zu gehen, die durch eine grobe Holztür vom Ende des Korridors getrennt war. Natürlich war das keine Toilette mit Wasserspülung, sondern ein Eimer, über den man ein Holzbrett gelegt hatte. Aber immerhin bedeutete es eine gewisse Privatsphäre. Ich wollte den Eimer nicht benutzen, sondern nur auf dem Holzbrett sitzen und beten und Gott danken für die wiedergewonnene Freiheit, ihn bitten, über meinen Vater und meine Mutter zu wachen und sie heil und sicher nach Hause zurückzubringen.
Die Gefühle überschwemmten mich, heiße Tränen liefen über meine Wangen. Nach einer Weile beruhigte ich mich und wischte mir mit dem Ärmel meines Pullovers die Tränen ab. Ich blieb noch ein paar Minuten auf der Toilette sitzen, und als ich hinausging, schloss ich die Tür fest hinter mir.
Langsam schob ich mich den dunklen Korridor zurück zur offenen Tür und zum Tageslicht. Ich sehnte mich nach frischer Luft. Als ich die Tür fast erreicht hatte, kam ein englischer Soldat herein. Einen Moment lang blieb er stehen, und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er mich und fragte auf Deutsch: »Bist du Hetty?«
»Ja«, antwortete ich.
»Gut«, sagte der Soldat. »Ich möchte, dass du mit mir kommst. Die Kinder haben mich geschickt. Wir haben sie gebeten, etwas für uns zu singen, aber sie wollen es ohne dich nicht tun.«
Ich zögerte. Ich war noch immer misstrauisch und hatte Angst.
»Wo sind die Kinder?«, fragte ich.
Er sah, dass ich mich unbehaglich fühlte, lächelte und sagte: »Du brauchst keine Angst zu haben, ich bringe dich zu ihnen. Sie sind nur ein bisschen weiter die Straße hinauf.«
Er streckte die Hand aus, um mir die paar Stufen hinunterzuhelfen, und ich ging langsam auf das Tor zu. Er sah, dass ich nicht gut laufen konnte und vergeudete keine Worte. Er hob mich hoch und trug mich die Straße hinauf, wo sich die Kinder um einen Jeep versammelt hatten. Vorsichtig setzte er mich hinten auf das Fahrzeug.
Die Kinder drängten sich um mich, und Max erzählte mir, dass die Soldaten sie aufgefordert hätten, etwas für das Radio zu singen, aber sie hätten sich nicht auf ein Lied einigen können, bis sie auf »Ferdinand war ein Bulle« gekommen seien. Das war ein Lied des niederländischen Duos Jonnie & Jones, die nach Auschwitz geschickt worden waren. Und natürlich würden wir auch »Baracke 17« singen.
Nach ein paar falschen Anfängen und unter der Leitung von zwei Soldaten wurde das Lied aufgenommen. Als die Soldaten zufrieden waren, sagte einer, er wolle mir ein paar Fragen auf Deutsch stellen und die Antworten aufnehmen. Ich sagte, mein Deutsch sei sehr beschränkt, aber er fand es in Ordnung.
Die meisten Kinder waren inzwischen zur Baracke zurückgegangen und es war ruhig genug für mein Interview. Der Soldat, der mich hergetragen hatte, war immer noch da und lächelte mich ermutigend an. Das Tonbandgerät wurde eingeschaltet und der Soldat stellte die erste Frage.
»Wie heißt du?«
»Hetty Werkendam«, antwortete ich.
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Ich bin fünfzehn Jahre alt.«
Das Interview 2 wurde fortgesetzt. Wir machten es zweimal, um sicherzugehen, dass es geklappt hatte. Die Soldaten bedankten sich bei mir, und derjenige, der mich zuvor hergetragen hatte, trug mich
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