Wir Kinder von Bergen-Belsen
ins Haus zurück.
Ich war mitten im Flur, als ich hörte, wie mein Name gerufen wurde. Ich drehte mich um und sah Maurice, und mir dämmerte, dass ich ihn in der ganzen letzten Zeit nicht gesehen hatte.
»Hallo, Maurice«, sagte ich. »Wo bist du gewesen?«
»Ich war im Krankenhaus«, antwortete er. »Leni ist tot, Hetty. Leni ist tot.«
Er sah sehr knochig aus und sein Mantel war ihm viel zu groß. Seine Schultern hingen nach vorn und Tränen liefen über seine hohlen Wangen. Ich vergaß auf der Stelle meine Schwäche, ich lief zu ihm und legte die Arme um ihn, während er sich an meiner Schulter ausweinte. Ich fühlte seinen Schmerz und weinte auch. Nach einer Weile fasste ich mich wieder und beruhigte Maurice mit sanfter Gewalt. Als er sein tränenüberströmtes Gesicht hob, fragte ich ihn: »Wann ist sie gestorben?«
»Vor zwei Tagen.«
»Weißt du, wo man sie begraben hat?«, fragte ich.
Maurice schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »wir finden es heraus.«
Maurice nickte, er bekam noch immer kein Wort heraus. Ich sagte zu einer Krankenschwester, die gerade vorbeikam, dass Maurice aus dem Krankenhaus gekommen sei und ein Bett brauche. Sie führte ihn durch den Flur, nachdem ich ihm versichert hatte, hier auf ihn zu warten.
Ich habe keine Ahnung, was mit mir passiert war, als ich Maurice tröstete, aber danach fühlte ich mich sehr viel stärker und in der Lage, wieder etwas für die Kinder zu tun. Maurice brauchte mich, und ich musste stark sein, um für ihn Lenis Grab zu finden. Als er zurückkam, gingen wir beide in die Küche, und ich schaffte es zum ersten Mal, einen Teller Brei zu essen, ohne dass mir schlecht wurde.
Als wir die Küche verließen, wollte sich Maurice ein bisschen ausruhen. Ich ging zu Schwester Lubas Zimmer, um ihr die traurige Nachricht von Lenis Tod mitzuteilen. Ihr Zimmer war neben der Küche, und als ich eintrat, waren schon etliche Leute darin, sowohl die Schwestern Luba, Hermina und Hella als auch drei englische Offiziere und ein kanadischer. Sie versuchten, sich miteinander zu unterhalten, was offensichtlich zu lustigen Resultaten führte. Die Männer fingen immer wieder an zu lachen, wenn einer von ihnen nicht die richtigen Worte fand, um den Frauen, die kein Englisch sprachen, irgendetwas zu erklären.
Außer ihrer Unterhaltung war noch das Radio zu hören. Es war ein deutscher Sender, und der Sprecher verkündete, dass sich die Russen vom Osten und Norden her Berlin näherten. Alle im Raum wurden still und lauschten. Der Sprecher im Radio rief alle Jungen ab zwölf auf, sich zur Verfügung zu stellen und Berlin gegen die Russen zu verteidigen. Fanatisch befahl er den Jungen, aus ihren Wohnungen zu kommen. Immer wieder rief er, wie weit die Russen in Berlin vordrangen, und es hörte sich an, als finde ein Straßenkampf statt, denn er sagte den Jungen genau, zu welchen Straßen sie gehen sollten, um den Angriff der Russen zu stoppen.
Plötzlich wurde die Sendung unterbrochen und eine englische Stimme verkündete Hitlers Tod, gefolgt von der englischen Nationalhymne. Der kanadische Offizier, der bisher faul auf einem Sessel gesessen hatte, die Beine über der Lehne, sprang auf und stand stramm, die Hand zum Gruß erhoben. Die anderen Soldaten folgten seinem Beispiel. Irgendjemand sagte, sie sollten jetzt besser zu ihren Quartieren zurückgehen, denn es könnte nun, da die Russen in Berlin waren und der Führer tot, neue Befehle geben.
Nachdem die Soldaten gegangen waren, sprachen wir über die neuesten Nachrichten, aber eigentlich interessierte uns nicht, was in Berlin passierte, für uns hatte der Krieg am 15. April 1945 aufgehört.
Es war ein warmer Frühling und unsere übliche Gruppe stand in der Diele, als Iesie erklärte, er habe große Lust auf Hühnersuppe.
»Warum ziehen wir nicht los und klauen uns ein Huhn von einem Bauernhof?«, fragte er.
Alle stimmten zu, nur ich sagte: »Erst müssen wir herausfinden, wo Leni begraben ist.«
Unsere Gruppe bestand aus Iesie, Max, Jackie, Maurice, Loukie und mir. Wir liefen über die Felder zu dem bewaldeten Gürtel außerhalb des Lagers. Dort, unter den Bäumen, standen kleine Zelte, in denen die englischen Soldaten untergebracht waren. Obwohl es mitten am Tag war, schliefen einige von ihnen, andere saßen vor ihren Zelten. Ein Soldat rief uns zu sich, um sich mit uns zu unterhalten. Das war etwas schwierig, denn unser Englisch beschränkte sich auf einige wenige Wörter.
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