Wir Kinder von Bergen-Belsen
mitgebracht hatte. In diesen Stiefeln, die unter den Hosen verborgen waren, versteckte sie zum Beispiel kleine Karottenstücke und schmuggelte sie durch das Tor zurück in unser Lager. Sie riskierte ihr Leben auf diese Weise gleich zweimal: wenn sie die Nahrungsmittel in ihren Stiefeln versteckte, und dann, wenn sie damit unter den wachsamen Augen der SS durch das Tor ging. Und doch wollte sie ihrem Mann und ihren hungrigen Kindern etwas zum Essen mitbrin-gen.
Das Essen, das wir bekamen, wurde immer schlimmer. Mittags gab man uns um die vier Zentimeter trockenes, hartes Brot. Die Barackenälteste zerschnitt die viereckigen Laibe mit einem Lineal, während die anderen mit Argusaugen darauf aufpassten, dass keiner ein bisschen mehr erhielt. Manchmal bekamen wir ein winziges Stück Butter oder einen Löffel Marmelade, meist war es aber nur trockenes Brot. Es gab auch Suppe, die aussah wie gefärbtes Wasser, in dem kleine Stückchen Kohl oder Karotten schwammen. Wir waren alle schrecklich ausgehungert und wurden Meister darin, unsere Essensration so aufzuteilen, dass sie vierundzwanzig Stunden vorhalten würde.
Die Neuigkeit verbreitete sich schnell, dass der Rabbiner um vier Uhr hinter der Baracke 17 ein Treffen abhalten wolle, um einige Dinge zu besprechen. Auch ich beschloss hinzugehen. Als ich zur angegebenen Zeit dort ankam, waren nur acht Männer da, keine einzige Frau. Die Männer standen dicht beieinander, sie stellten dem Rabbiner Fragen und wurden von dem ruhigen, frommen Mann getröstet.
»Was sollen wir tun? Wir sind hungrig, und das Essen, das wir bekommen, ist nicht koscher«, fragte ein Mann den Rabbiner.
»Gott hat uns befohlen, nur koschere Nahrung zu uns zu nehmen, aber er hat das Leben erschaffen, und deshalb sage ich, dass dies ein Notfall ist und das Leben zuerst kommt«, antwortete der Rabbi. »Als Diener des Allmächtigen erkläre ich hiermit, dass ihr alles essen dürft, auch wenn es treife ist, rituell unrein. Eure erste Pflicht ist es, am Leben zu bleiben.«
Ich war tief betroffen, als ich diese Worte hörte, ebenso wie der Mann, der die Frage gestellt hatte. Er bekannte, dass der Hunger ihn schon dazu gebracht hatte, Gottes Gebot zu brechen, aber es beunruhigte ihn sehr.
»In Gottes Augen hast du kein Unrecht begangen, deshalb mach dir keine Sorgen mehr«, versicherte ihm der Rabbiner.
Nach dem Treffen ging ich zurück zu unserer Baracke, und obwohl wir nie einen koscheren Haushalt geführt hatten, konnte ich das, was der Rabbiner gesagt hatte, nicht einfach vergessen. Ich fühlte mich irgendwie betrogen. Ausgerechnet der Rabbiner riet uns, Teile des Glaubens aufzugeben, des Glaubens und der Regeln, die das Leben der Juden bestimmen, sogar das Leben jener Juden, die es irgendwie irgendwohin verstreut hatte. Für jeden gibt es tief innen einen Funken, der nie erlöscht. Hin Funke, der uns sagt, wohin wir gehören.
Die Leute unserer Baracke waren wütend. Während der Nacht hatte jemand die privaten Schränke im Essraum aufgebrochen und Brotrationen und andere Nahrungsmittel gestohlen. Viele Vermutungen wurden geäußert, wer es getan haben könnte. Sogar Max und Jackie wurden beschuldigt. Vater befragte Jackie und war froh, dass er die Tat nicht begangen hatte. Max konnte es gar nicht gewesen sein, denn er schlief mit Vater in der Män-nerabteilung. Nacht um Nacht wurde weiter gestohlen, auch einer alten Dame wurde das letzte Brot genommen.
Einige Männer beschlossen, nachts Wache zu halten, um den Dieb zu erwischen. Am nächsten Tag ging es durch das ganze Lager, dass die Männer Erfolg gehabt hatten. Der Dieb war Emile, ein zwölfjähriger Junge. Die Lagerältesten hatten davor schon eine Art Gericht gegründet, denn ihrer Meinung nach war es besser, wenn sie sich selbst mit Übertretungen auseinander setzten, als dass sie es der SS überließen. Wann immer es er-forderlich war, wurde in der Nähe von Albalas Büro Gericht gehalten. Ein Tapeziertisch wurde aufgestellt, und fünf Männer, der eine oder andere soll sogar ein Jurist gewesen sein, behandelten den Fall, der ihnen vorgelegt wurde. Dem Beschuldigten wurde ein »Verteidiger« zugeteilt, der für ihn plädierte. Die Anhörung dauerte nie sehr lange, um nicht die Aufmerksamkeit der SS zu erregen. Joseph Weiss, ein kluger, von allen Lagerinsassen akzeptierter Mann, war der Vorsitzende. Emile wurde vor das Gericht gebracht und als Strafe dazu verurteilt, einen Monat lang die Baracke zu reinigen.
Hetty, wenn es nicht bald besser
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