Wir Kinder von Bergen-Belsen
Baracke. Ich holte unsere Tagesration bei Frau Müller ab. Sie gab mir vier Rationen. Für zwei Tage. Unser Vater würde nichts bekommen.
Wir beschlossen, eine Essensration pro Tag unserem Vater zu geben und uns den Rest zu teilen. Er würde auch einen Napf Suppe bekommen, und Mama und ich würden uns eben zusammen mit einem begnügen. Gegen eins kam Mama von der Arbeit zurück, wie sie es geplant hatte. Wir erzählten ihr, was sich an diesem Morgen auf dem Appellplatz ereignet hatte, und versicherten ihr, dass es Papa gut ging.
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich war vorhin dort und habe mit ihm gesprochen. Aber jetzt muss ich zum Lagerarzt, um mir ein Attest geben zu lassen, dass mein Magen nicht in Ordnung ist, danach möchte ich Lübben aufsuchen.«
»Ich gehe mit dir, Mama«, sagte ich.
Erst wollte sie es nicht, doch als sie meine Entschlossenheit sah, stimmte sie zu. Max und Jackie mussten ihr versprechen, nicht auf den Appellplatz zu gehen, dann machten wir uns auf den Weg zum Lagerarzt und danach zum Appellplatz. Wir kamen genau in dem Moment an, als die letzte Arbeitskolonne loszog. Lübben unterhielt sich mit Albala. Er schien gute Laune zu haben.
»Wünsch mir Glück«, sagte Mama und drückte meine Hand.
Langsam ging sie auf Albala und Lübben zu. In respektvoller Entfernung blieb sie stehen und wartete. Albala bemerkte sie als
Erster und sprach sie an, dann sagte er etwas zu Lübben, der sich zu meiner Mutter umdrehte. Ich konnte sehen, dass sie miteinander sprachen. Wie mutig sie aussieht, dachte ich. Sie hatte den Kopf erhoben, um den baumlangen SS-Mann anzuschauen. Nach zwei Minuten war das Gespräch vorüber und Mama kam wieder zu mir.
»Komm, gehen wir zu den Jungen«, sagte sie und lächelte.
Auf dem Weg zur Baracke erzählte sie mir, was sie zu Lübben gesagt hatte. Sie hatte ihn, um seiner Eitelkeit zu schmeicheln, als »Hauptsturmführer« angesprochen, obwohl sie genau wusste, dass er nur Scharführer war. In ihrem gebrochenen Deutsch hatte sie sich für das entschuldigt, was mein Vater getan hatte, ihn aber als einen fürsorglichen Vater hingestellt. Seine Kinder seien jetzt die ganze Woche ohne Aufsicht, und sie, meine Mutter, arbeite sieben Tage in der Woche, deshalb könne sie nicht auf alle aufpassen. Es schien, als habe Lübben das verstanden, denn er sagte, dass Kinder Disziplin brauchten. Dann sagte er noch, er habe die Angelegenheit bereits nach Berlin gemeldet, aber er würde darüber nachdenken. Obwohl wir nicht sicher sein konnten, ob unser Vater nicht doch weggeschickt würde, hofften wir inständig, dass Mamas Bitte erfolgreich sein würde. An diesem Nachmittag verurteilte unser Gericht meinen Vater zu vier Tagen Bunker, was hieß, dass er in zwei Tagen wieder herauskäme. Wir gingen an diesem Abend früh schlafen, die Aufregung hatte uns erschöpft.
Ich weckte Mama um drei Uhr zur Arbeit, dann schlief ich bis zum Wecken. Max und Jackie waren früh am Morgen zu Papa gegangen und waren noch nicht zurück, als es Zeit war für den Appellplatz. Deshalb ging ich allein und war froh, als ich Max und Jackie schon bei den Insassen unserer Baracke stehen sah. Sie erzählten mir, dass sie mit Papa gesprochen hatten. Herr Weiss habe ihm am vergangenen Abend etwas zu essen gebracht. Ich hatte keine Zeit, um selbst mit Papa zu reden, während wir uns aufstellten. Der Scharführer hatte bereits mit dem
Zählen der ersten Baracke begonnen. Sie waren immer zu zweit und Albala stand respektvoll einen Schritt hinter ihnen. Es herrschte eine Totenstille. Langsam kamen sie näher. Plötzlich drang ein Geräusch an mein Ohr, als ob etwas splitterte. Es kam vom Bunker, und als ich mich umdrehte, sah ich meinen Vater, der aus einem schmalen Loch in der Wand zu uns sah. Dann trat der Scharführer zu unserer Barackengruppe, und aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Vater sich von der Öffnung ins Dunkle des Bunkers zurückzog, damit er nicht gesehen wurde. Ich konnte einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken, als der Scharführer an uns vorbeiging, ohne die Öffnung in der Holzverkleidung zu bemerken.
Es war ein bitterkalter Morgen Ende April 1944. Obwohl wir uns warm angezogen hatten, zitterten wir in dem kalten Wind. Die Ungarn, die in der Gruppe neben uns standen, klagten und stampften mit den Füßen, um sich warm zu halten. Einige von ihnen waren in mittlerem Alter und trugen Decken um die Schultern. Wir froren auch, aber blieben ruhig. Vier lange Stunden standen wir auf dem
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