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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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fragte mich der Wachmann, wo wir herkämen. Ich sagte ihm, dass wir vom Sternlager gekommen waren, ungefähr um vier Uhr nachmittags. Die beiden Männer sprachen miteinander, dann ging einer weg. Der Mann, der bei uns in der Garage blieb, trug keine SS-Uniform, sondern eine grüne und schien etwa fünfzig Jahre alt zu sein. Er hielt das Gewehr schussbereit in der Hand. Als das Licht angegangen war, hatten die Kinder aufgehört zu weinen, und in der Stille konnten wir die Geräusche einer Nikolausfeier hören, die in den SS-Baracken stattfand. Die SS-Männer sangen aus voller Kehle Nikolauslieder.
    Das Weinen und Schreien begann von neuem, und immer, wenn ein Kind aufhörte, fing ein anderes an. Sie waren verwirrt und ohne Hoffnung. Ich fragte den Wachmann höflich, wie viel Uhr es sei, und er sagte, Viertel nach neun. Dann fragte er, ob ich die Kinder dazu bringen könne, dass sie aufhörten zu weinen. Mein Deutsch war sehr beschränkt, so dauerte es eine Weile, bis ich ihn verstand. In Zeichensprache teilte ich ihm mit, dass wir sehr hungrig und müde seien.
    Der Wachmann schien sich in diesem Elend unbehaglich zu fühlen. Nachdem er verstanden hatte, was ich ihm zu sagen versuchte, nickte er und sagte: »Geht nicht weg! Ich komme wieder!« Er verließ die Garage. Ich verstand nicht, was er mit dem »Geht nicht weg« gemeint hatte. Wohin hätten wir gehen sollen?
    Ich lief zu der Ecke, wo die kleinen Kinder zusammengekauert auf dem Boden saßen. Ihre Augen waren geschwollen von den vielen Tränen, sie waren vollkommen erschöpft von dem, was sie durchgemacht hatten. Das schlimmste Weinen hatte nachgelassen, sie hatten keine Kraft mehr. Ein paar waren sogar auf dem nackten Boden eingeschlafen, ein gnädiger Schlaf hatte sich über sie gesenkt. Ich forderte einige der älteren Jungen auf, ein paar Decken zu bringen, die, wie ich gesehen hatte, zusammengerollt zwischen den Koffern lagen. Damit deckte ich die Kleinen zu, denn es war eine sehr kalte Nacht. Zu den anderen Kindern sagte ich, sie sollten aufhören zu weinen und versuchen zu schlafen. Morgen, wenn es hell war, würden wir herauszufinden versuchen, wo ihre Mütter waren. Mit Hilfe der größeren Kinder beruhigten wir sie und deckten sie zu, so gut es ging.
    Dann sagte ich zu den Alteren, sie sollten es sich auf den Koffern bequem machen. Wir waren müde von den vielen Stunden, die wir auf den Beinen waren, von dem traumatischen Aufruhr, den wir durchgemacht hatten, und natürlich auch davon, dass wir den ganzen Tag noch nichts gegessen hatten. Langsam wurde es ruhiger. Die meisten der Kleinen schliefen. Die Alteren unterhielten sich leise, viel zu verängstigt, um zu schlafen. Ich war erschöpft, aber nicht schläfrig.
    Etwa eine Stunde später kam der Wachmann mit zwei männlichen Gefangenen zurück, von denen jeder eine große Schachtel trug. Zur gleichen Zeit kam ein Auto an. Zwei Männer betraten die Garage, mit Packen von Decken auf den Armen. Ich erkannte, dass es Männer aus unserem Lager waren. Als Herr Weiss herausgefunden hatte, dass wir im Autoschuppen der SS untergebracht waren, hatten die Männer Decken besorgt, um sie zu uns zu bringen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das geschafft hatten, aber wir waren sehr froh, dass sich jetzt auch die älteren Kinder zudecken konnten.
    Als alle vier Männer wieder gegangen waren, rief mich der Wachmann und deutete auf die beiden Schachteln, die auf dem Boden standen. Er nickte ermutigend und bedeutete mir, ich solle hineinschauen. Ich zögerte, ich traute ihm nicht. Langsam ging ich auf die beiden Schachteln zu, dann schaute ich ihn wieder an. Er sagte kein Wort, sondern nickte nur mit dem Kopf. Ganz langsam öffnete ich die erste Schachtel, noch immer miss-trauisch, was den Wachmann betraf. Ich hob ein Stück Papier hoch und traute meinen Augen nicht. Unter dem Papier fand ich dicke Scheiben Weißbrot, reichlich geschmiert mit Butter und Zucker. Ich hob den Blick zu dem Mann, zu ängstlich, um etwas zu berühren. Er nickte zustimmend, dann drehte er sich zur Seite und tat, als sähe er nichts.
    Ich rief Max und einige der älteren Jungen und Mädchen, die noch wach waren. Sie kamen zu mir, und ich erzählte ihnen flüsternd von dem himmlischen Geschenk, das der Wachmann uns gebracht hatte. Wir schauten zu ihm hinüber, der immer noch mit dem Rücken zu uns stand, und nahmen jeder ein Butterbrot aus der Schachtel. Ich befahl den Jungen, auch den anderen Kindern, die schon zugedeckt dalagen, aber noch nicht

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