Wir Kinder von Bergen-Belsen
ich hören, wie ein SS-Mann den Unglücklichen anschrie: »Los, Arme hochhalten, Dieb!«, und ich konnte sehen, wie er den Kürbis ein paar Zentimeter höher hielt. Ich konnte seine Schmerzen nachempfinden. Dieser Kürbis musste für ihn tonnenschwer sein. Seit wann er schon dastand, wusste ich nicht, aber selbst ein Mann in guter körperlicher Verfassung hätte einen solch großen Kürbis nicht sehr lange hochhalten können. Dieses bedauernswerte Skelett besaß noch genug Lebenswillen, dass es die Qual aushielt. Doch wie lange noch?
Mit abgewandtem Blick ging ich zum offenen Fenster und sagte dem SS-Offizier meine Nummer.
»Du solltest brav sein, wenn du nicht so bestraft werden willst wie er«, sagte er.
Ich nickte und lächelte, so freundlich ich konnte. Ich durfte passieren und erreichte bald das Proviantlager, doch nur um zu erfahren, dass Fritz nicht da war. Die beiden niederländischen Frauen aus dem Albalalager waren ebenfalls nicht da, und der polnische Kapo, der die Aufsicht hatte, wollte mir nichts geben.
»Komm wieder, wenn Fritz da ist«, sagte er.
Enttäuscht, weil ich mich schließlich in der Hoffnung, wieder eine Salami zu bekommen, auf den langen Weg gemacht hatte, machte ich kehrt. Als ich mich der SS-Kontrollstelle näherte, sah ich, dass der Gefangene nun auf den Knien lag, aber noch immer den Kürbis hochhielt.
Ich winkte dem Offizier zu, und er nickte als Zeichen, dass ich passieren durfte. Es machte mir etwas aus, jetzt keine Zusatzration für Max und Jackie zu haben, doch ich würde es bald wieder versuchen. In den letzten Tagen war das Essen sehr knapp geworden. Manchmal kam Schwester Luba ohne etwas zurück, und unsere Rationen wurden auf eine Scheibe Brot am Tag gekürzt, die wir abends bekamen.
Ohne es zu merken, war ich schon durch das Tor des Frauen lagers gegangen und näherte mich einem zweistöckigen Haus, das auf einer Lichtung stand. Vor dem Haus stand ein Karren, wie man ihn zum Transport von Leichen benutzte, und von einem Fenster im ersten Stock führte eine Holzrutsche in den Karren. Als ich näher kam, sah ich, wie zwei Gefangene Brotlaibe auffingen, die über die Rutsche herunterkamen, wobei sie die Nummer eines jeden Laibs wiederholten, die ein anderer Gefangener ihnen von oben vorzählte. »Siebenundachtzig«, zählten sie laut, »achtundachtzig.« Beim Anblick des vielen Brots aul dem Karren ging ich hinüber und stellte mich neben den SS-Scharführer, der den Vorgang beaufsichtigte. Der Scharführer musterte mich kurz, dann lächelte er.
Ich hatte den Beschluss gefasst, einen dieser Laibe zu stehlen. Über die Folgen eines Misslingens wollte ich gar nicht erst nachdenken. Langsam schob ich mich näher zum Karren und fühlte, wie die Holzplanken des Karrens meine Brust berührten. Dann trat ich einen Schritt zurück, um genug Platz zu haben, den Laib unter meinem Mantel zu verstecken. Ich stand sehr still in der Nähe des Scharführers, der mich nicht weiter beachtete. Zwei Gefangene starrten mich von der anderen Seite des Karrens an, während sie die Laibe von der Rutsche nahmen und sie in ordentlichen Reihen auf dem Karren aufschichteten. Sie zählten laut. Tatsächlich wiederholten sie nur die Nummern, die vom Gebäude herunter verkündet wurden. Drei Männer waren oben mit dem Verladen des Brotes beschäftigt, zwei unten. Dann kam meine Chance. Die Männer unten waren nicht mit der Zahl einverstanden, die von den Männern oben angegeben worden war.
»Neunundachtzig Laibe«, sagte ein Mann.
»Nein«, sagte der, der mir gegenüber auf der anderen Seite des Karrens stand. »Nein, siebenundachtzig.«
Der Mann oben am Fenster begann, laut auf Polnisch zu argumentieren. Ich tat, als würde ich mich für diesen Streit interessieren und hob den Kopf, um den Mann oben anzuschauen. Ich konnte kein Wort von dem verstehen, was gesagt wurde, auch der Scharführer verstand nichts. Er fragte den Mann oben an der Rutsche, was los sei. Dieser sagte wohl, er habe neunundachtzig Laibe nach unten geschickt, nicht siebenundachtzig. Der Mann am Karren widersprach heftig.
Ich wusste, dass dies der richtige Moment war. Ich hielt meinen Kopf noch immer hoch, als betrachtete ich den Mann dort oben. Die beiden Männer am Karren hatten mir den Rücken zugekehrt. Sie und der Scharführer schauten hinauf zu dem Mann am Fenster. Ich stand ruhig da. Langsam bewegte ich die Hand in den Karren, tastete nach einem Brot und hob es ebenso langsam über den Rand des Karrens. Abgesehen von meinem
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