Wir Kinder von Bergen-Belsen
alle paar Meter mussten sie anhalten, um wieder zu Atem zu kommen. Es war wirklich ein makabrer Anblick.
Schwester Hella stand neben meinem Bett. Sie lächelte über das ganze Gesicht, so glücklich war sie darüber, dass ich auf dem Weg der Besserung war. Neben ihr standen Judie und Mickie.
»Wir geht es dir, Hettylein?«, fragte Schwester Hella. »Ich bin so froh, dass du außer Gefahr bist, und Max auch.«
Sie ging hinüber zu ihm, küsste ihn und schüttelte sein Kissen auf, damit er es etwas bequemer hatte.
Judie, die den zweiten Becher heißes Wasser in der Hand hatte, hielt ihn mir hin. Dann kletterte sie auf mein Bett, griff nach der kleinen Dose mit dem bisschen Tee und gab sie mir, damit ich mit den Fingerspitzen etwas herausnehmen und in den
Becher tun konnte. Ich trank ein paar Schlucke, bevor ich Judie den Becher gab, damit sie ihn zu Max brachte. Zum ersten Mal fühlte ich, wie meine Kraft zurückkam. Max genoss den Tee sichtlich, ließ aber etwas für Robbie übrig. Schwester Hella gab den Becher an ihn weiter.
Nachdem der letzte Tropfen getrunken war, erzählte mir Schwester Hella, dass alle SS-Aufseher nun ein weißes Band um den Arm trugen, denn die englische Armee sei ganz dicht vor dem Lager und die SS würde sich ergeben. Alle warteten ängstlich auf das, was in den nächsten Tagen geschehen würde. Schwester Hella erzählte weiter, dass Häftlinge vor ein paar Tagen eine tiefe Grube weiter oben, vor den Revierbaracken, gegraben hätten, wohin die Leichen jetzt gebracht würden, in ein Massengrab.
Ich schaute hinaus. Nasser Schnee fiel und das Tageslicht ver-blasste.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich.
»Ungefähr sechs«, sagte jemand.
Sechs Uhr, und die Gefangenen schoben noch immer Karren mit Leichen! Wann würden sie in ihre Baracke zurückgehen können?
Jemand brachte mir ein kleines, flaches Stück harten Mehlpapp. Das Ding sah aus wie ein Keks, aber abgesehen davon, dass es steinhart war, hatte es einen unbeschreiblich mehligen Geschmack und war nur halb gar. Es war gekocht und auf dem Ofen im Esszimmer getrocknet worden. Doch etwas anderes gab es nicht zu essen. Seit vier Tagen hatten sie hier nichts anderes in den Mund gekriegt, erfuhr ich, und ebenso, dass es schwer war, Wasser zu bekommen. Ich selbst war zwei Tage lang nicht bei Bewusstsein gewesen. Aber alles konnte unsere erwartungsvollen Gefühle nicht dämpfen.
Wir hörten Schritte im Korridor. Im Schlafraum wurde es still. Die Schritte gingen an unserer Tür vorbei zum Esszimmer. Da keine Gefahr zu drohen schien, unterhielten wir uns weiter, doch dann ging unsere Tür auf und Schwester Hermina kam mit einem Abgesandten von Frau Stana herein. Stille kehrte ein, als Schwester Hermina berichtete, dass unser Lager am nächsten Tag von der englischen Armee inspiziert würde. Der Befehl des Kommandanten lautete, sich am kommenden Tag keinesfalls außerhalb der Baracken aufzuhalten. Und wir hätten uns während der Inspektion absolut still zu halten. Jeder, der nicht gehorchte, würde erschossen.
Nachdem er seinen Auftrag los geworden war, zog der Abgesandte ab, doch Schwester Hermina blieb und wiederholte den Befehl noch einmal, damit wir auch verstanden, wie ernst er gemeint war. Es war Schlafenszeit. Die meisten der Kinder waren noch sehr krank, obwohl sich einige schon auf dem Weg der Besserung befanden. Wir sprachen an diesem Abend nicht viel, wir waren viel zu versunken in unsere eigenen Gedanken. Ich fragte mich, ob die Freiheit wirklich so nah war. Da ich sehr müde war, wollte ich schlafen, und als ich das Gesicht zum Fenster drehte, sah ich, dass die Häftlinge im Schein einer Kero-sinlampe noch immer Karren mit Leichen wegschoben.
Am nächsten Morgen waren die Gesünderen unter uns bereits früh wach. Man konnte die Spannung spüren, doch wir mussten noch einige Stunden warten, bis der Kapo, der vor unserer Baracke postiert war, den Befehl schrie, jetzt mucksmäuschenstill zu sein. Alle im Schlafraum erstarrten. Kein Ton war zu hören. Einige Minuten lang blieb das so, doch dann näherten sich schwere Schritte. Ich hielt die Luft an und schaute aus dem Fenster. Da waren sie.
Zwei SS-Männer gingen, jeder an einer Seite, neben einem jungen englischen Soldaten her, der eine weiße Fahne trug und den Kopf stolz gereckt hielt. Die SS-Männer wirkten verbissen. Der Engländer schaute geradeaus, doch ab und zu glitt sein Blick über den Leichenberg. Die kleine Gruppe ging schnell an unserer Baracke vorbei, und als
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