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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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erwartungsvolle Stimmung.
    Die Mittagszeit kam, aber es gab nichts zu essen. Wir hatten schon kein Frühstück bekommen, aber niemand dachte an Essen. Die Luft war wie elektrisiert.
    Ich lag flach im Bett, die Erregung hatte mich völlig erschöpft.
    »Hetty, Hetty«, hörte ich jemanden rufen.
    Ich hob den Kopf und sah Inge, die sich durch eine Gruppe-Kinder drängte. Inge war die Niederländerin deutscher Herkunft und hatte zusammen mit ihrer Freundin Gretel für mich das Gedicht für Schwester Lubas Geburtstag geschrieben.
    »Oh, Inge«, sagte ich. »Wie schön, dich wieder zu sehen. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
    »Ich war sehr krank, aber ich wollte dich unbedingt sehen, deshalb bin ich gekommen.«
    Ich betrachtete sie. Sie sah noch immer krank aus und war sehr dünn.
    »Komm, Inge«, sagte ich. »Setz dich auf mein Bett. Hier, nimm den Stuhl, dann kommst du leichter rauf.«
    Inge stieg mühsam auf den Stuhl und ich half ihr auf mein Bett. Nachdem wir wieder zu Atem gekommen waren, fragte Inge: »Wie fühlst du dich, Hetty? Du bist immer noch sehr krank, man sieht es dir an.«
    »Mir geht es gut«, sagte ich, »ich bin nur noch ein bisschen schwach.«
    Bevor Inge etwas sagen konnte, hörte man aus dem Korridor lauten Lärm. Eine Frau schrie hysterisch etwas auf Polnisch. Im Schlafraum wurde es still. Dann wurde die Tür aufgerissen und jemand rief: »Die Engländer sind da, die Engländer sind da!«
    Einen Moment lang bewegte sich niemand, doch dann liefen alle, die dazu fähig waren, hinaus zum Zaun, um unsere Befreier zu sehen.
    Ich saß auf dem Bett, unfähig, mich zu bewegen. Mein Herz klopfte. Ich hätte alles darum gegeben, auch zum Zaun laufen zu können. Ich schaute aus dem Fenster und sah, dass die Kinder unserer Gruppe schon verschwunden waren. Nur Iesie war noch zu sehen, wie er sich, auf den Stock gestützt, vorwärts kämpfte, und hinter ihm lief Jiddele, so schnell er es mit seinen kleinen Beinen konnte.
    Der Anblick Iesies, der sich über ein Gelände voller Leichen kämpfte, und Jiddeles, der ihm folgte, trieb mir die Tränen in die Augen, und erst als ich mich zu Inge umdrehte, traf mich die Erkenntnis, dass wir frei waren, wie ein Schlag.
    »Wir sind frei, Inge«, brach es aus mir heraus. »Wir sind frei.«
    Wir weinten beide, als wir uns umarmten und hin- und herschaukelten. Freiheit! Freiheit! Endlich waren wir wieder frei.
    Nach ein paar Stunden kamen die meisten Kinder in den Schlafraum zurück und erzählten uns, was geschehen war, als unsere Befreier das Lager betreten hatten. Die Panzer seien die Hauptstraße entlanggefahren, erzählten sie, und über einen Lautsprecher hätten sie gesagt, dass wir frei seien. Sie erzählten auch, dass englische Soldaten die Kontrolle der Küche übernommen hätten, denn es habe das Gerücht gegeben, die SS habe Gift in unser Essen getan. Deshalb müssten die Kessel erst gereinigt werden, aber morgen würde es dann etwas zu essen geben. Niemand fragte, wie die Engländer das erfahren hatten, es war uns auch egal. Wir waren frei und die Zukunft sah wieder gut aus.
    Inge versprach, bald wieder zu kommen, dann ging sie gegen fünf Uhr hinaus. Sie wollte selbst sehen, was im Lager geschah, und sie wollte Gretel suchen.
    Es wurde schon dunkel, als Max in den Schlafraum zurückkam. Stolz zeigte er mir zwei Paar Wollsocken und einen Pullover.
    »Woher hast du das?«, fragte ich.
    »Die Gefangenen haben das Magazin überfallen«, sagte er. »Und ich bin hineingegangen und habe mir was genommen.«
    Ich begriff, dass er den ganzen Weg bis zum anderen Ende des Lagers gegangen war. Woher hatte er die Kraft dazu genommen? Er war an diesem Morgen zum ersten Mal aufgestanden und musste sich auf einen Stock stützen, und doch hatte er diese lange Strecke zurückgelegt. Er war viel stärker als ich. Ich konnte noch nicht einmal den Versuch wagen, aus dem Bett zu kommen, geschweige denn herumzulaufen. Der Typhus musste mich härter getroffen haben als manche der anderen Kinder.
    An diesem Abend gab es keine feste Schlafenszeit, die Schwestern ließen uns tun, was wir wollten. Niemand dachte an Essen, wir waren zu aufgeregt. Doch irgendwann forderte die Müdigkeit ihr Recht. Die Kleinen wurden nach meinen Anweisungen von den älteren Kindern ins Bett gebracht. Schließlich kehrte Stille in unseren Schlafraum ein.
    Früh am nächsten Morgen begann ein Exodus aus unserer Baracke. Die Jungen zogen los, um etwas zu essen zu suchen und weitere Kontakte mit unseren

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