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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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ich sie in der Ferne verschwinden sah, hätte ich dem englischen Soldaten am liebsten etwas zurückgerufen, um mich zu versichern, dass die Freiheit direkt um die Ecke wartete.
    Sobald die Inspektion vorbei war, fingen alle im Esszimmer an zu sprechen. Iesie, dem es schon länger besser ging, bemühte sich, zu meinem Bett zu kommen. Er war noch immer sehr schwach, hatte aber einen Stock gefunden, auf den er sich stützen konnte. Er schaute zu mir hoch. Aus seinen tief eingesunkenen Augen mit den dunklen Ringen strahlten Glück und Hoffnung.
    »Hetty, werd schnell gesund, es dauert jetzt nicht mehr lange und wir sind frei.« Er lachte, wie nur Iesie lachen konnte, wenn er sich einer Sache sicher war.
    Ich konnte nur nicken.
    Max hatte von der Inspektion nichts sehen können, sein Bett stand nicht am Fenster.
    »Wie hat er ausgesehen?«, fragte er. Er meinte den englischen Soldaten.
    »Ich finde, er hat gut ausgesehen«, sagte Iesie.
    »Mir hat seine Nase gefallen, die er so stolz in die Luft gereckt hat«, fügte ich hinzu.
    Alle lachten.
    Schwester Luba betrat den Schlafraum und verlangte unsere Aufmerksamkeit. Als es ruhig geworden waren, sagte sie, dass niemand unseren Hof verlassen dürfe. Ihr Mund war eine gerade Linie, was bedeutete, dass sie absoluten Gehorsam forderte. Unsere glückliche Stimmung verschwand, als wir verstanden, dass uns noch immer etwas passieren konnte.
    Bevor sie ging, kam sie noch einmal zu meinem Bett, um zu sehen, welche Fortschritte meine Genesung machte. Sie schaute auch nach Max und Robbie und den Kindern in der anderen Ecke des Schlafraums, die noch immer sehr krank waren.
    Ruhe kehrte in den Schlafraum ein, als die gesunden Kinder hinausgingen, um zu spielen. Man konnte ihre aufgeregten Stimmen hören, wie von ganz normal spielenden Kindern. Max und Robbie waren wieder eingedöst, und Iesie war auf sein Bett geklettert, um sich ein bisschen auszuruhen. Ich war hellwach, blieb aber still liegen. Das Glück des Vormittags schien das bisschen Kraft, das ich hatte, aufgebraucht zu haben. Ich schaute aus dem Fenster und sah den Leichenberg. An diesem Tag kamen keine Häftlinge, um ihn weiter abzuräumen.
    Es war, als stünde die Zeit still, nichts bewegte sich dort. Es gab nur den grauen Himmel und die Leichen. Ich schloss die Augen und sah im Geist den englischen Soldaten vor mir, zusammen mit den grimmig aussehenden SS-Männern. Der kurze Augenblick, als sie an meinem Fenster vorbeigegangen waren, würde für immer in mein Gedächtnis eingeritzt bleiben.
    Im Lauf des Tages bekam ich noch einmal diese trockenen Mehlkekse, aber ich lehnte sie ab, ich hatte einfach nicht genug Kraft, sie zu kauen. Also aß ich nichts. Ich war über das Stadium hinaus, den Hunger noch zu fühlen. Ich wollte einfach nur im Bett liegen und mich ausruhen. Wie dünn ich tatsächlich geworden war und wie schwach, war mir nicht bewusst. Wie immer kamen manchmal Kinder zu meinem Bett, um zu sehen, wie es mir ging und ob ich zum Beispiel einen Becher Wasser brauchte oder auf den Topf musste. Sie hielten mich fest, wenn ich auf dem Topf saß, und keine erfahrene Krankenschwester hätte mir besser helfen können, als es die neun und zehn Jahre alten Mädchen mit ihren helfenden Händen taten.
    Die Nacht kam und brachte Schlaf, und mit dem Schlaf kamen das Vergessen und die Genesung für die Kranken.
    Am Samstag, dem 14. April, erfuhren wir schon bei Sonnenaufgang durch den Lagertelegraphen, dass die SS-Männer in den Wachtürmen durch ungarische Soldaten ersetzt worden waren. Das Lager selbst war sehr still. Es war, als wären alle in ein verschwommenes, unwirkliches Warten versunken, ein Warten auf das, was kommen würde. Manchmal schlief ich für ein paar Stunden, ein guter Weg der Natur, mich gesunden zu lassen. Abends kam Schwester Luba zu meinem Bett und fragte, ob es mir gut genug gehe, um ein bisschen aufzustehen und herumzulaufen. Ich wusste es nicht, da ich ja bisher noch nicht aufgestanden war.
    »Warum?«, fragte ich. »Was ist los?«
    Schwester Luba flüsterte, Maximilian habe eine Nachricht geschickt, dass das Tor neben dem Krematorium unverschlossen sei und dass er um Mitternacht zwei Lastwagen schicken werde, um die Kinder herauszuholen. Die SS habe Sprengstoff um das Lager verteilt, man wolle es in die Luft jagen, nachdem man den Gefangenen vergiftetes Brot gegeben habe. Vielleicht war es die Lethargie, in die man nach einer schweren Krankheit häufig verfällt, ich weiß es nicht, jedenfalls sagte

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