Wir lassen sie verhungern
folgende Stadien.
Sie beginnt mit einer einfachen Zahnfleischentzündung und einem oder mehreren Bläschen im Mund. Entdeckt man sie in diesem Stadium, das heißt, in den drei Wochen nach Auftreten des ersten Bläschens, lässt sie sich leicht heilen: Es genügt, den Mund regelmäßig mit einem Desinfektionsmittel auszuspülen und für eine angemessene Ernährung des Kindes zu sorgen: die 800 bis 1600 Kilokalorien, die in seinem Alter unentbehrlich sind, und die Mikronährstoffe – Vitamine und Mineralstoffe –, die es braucht. Dann werden die körpereigenen Abwehrkräfte des Kindes die Zahnfleischentzündung und die Bläschen beseitigen.
Werden Zahnfleischentzündung und Bläschen jedoch nicht rechtzeitig entdeckt, bildet sich im Mund eine blutende Wunde. Aus der Zahlfleischentzündung wird eine Nekrose. Das Kind bekommt Fieber. Doch auch in diesem Stadium ist noch nichts verloren. Die Behandlung ist einfach. Das Kind braucht lediglich eine Antibiotikatherapie, angemessene Ernährung und strenge Mundhygiene.
Philippe Rathle gehört der von Bertrand Piccard geleiteten Schweizer Stiftung Winds of Hope 71 an und besitzt große Erfahrung mit der Behandlung von Noma. Er schätzt, dass insgesamt nur 2 bis 3 Euro erforderlich sind, um eine Behandlung von zehn Tagen zu ermöglichen. Nach diesem Zeitraum ist das Kind geheilt.
Wenn die Mutter aber nicht über die erforderlichen drei Euro verfügt oder keinen Zugang zu Medikamenten hat, wenn sie nicht in der Lage ist, die Wunde zu entdecken, oder wenn sie sie entdeckt, sich aber schämt und das Kind isoliert, das unablässig weint und klagt, ist die Schwelle überschritten. Die Noma ist nicht mehr aufzuhalten.
Zunächst schwillt das Gesicht des Kindes an, dann zerfrisst die Nekrose allmählich alle weichen Gewebe.
Lippen und Wangen verschwinden, klaffende Löcher tun sich auf. Die Augen hängen nach unten, da der Knochen der Augenhöhle zerstört wird. Der Kiefer wird unbeweglich.
Die Narbenbildung entstellt das Gesicht.
Da der Kiefer blockiert wird, kann das Kind den Mund nicht mehr öffnen.
Daraufhin bricht die Mutter die Zähne an der einen Seite heraus, um dem Kind eine Hirsesuppe einflößen zu können … in der verzweifelten Hoffnung, die graue Flüssigkeit könne verhindern, dass das Kind verhungert.
Das Kind mit dem durchlöcherten Gesicht und der Kiefersperre kann nicht mehr sprechen. Sein verstümmelter Mund vermag keine Laute mehr zu bilden; allenfalls kann es noch grunzen oder gutturale Laute ausstoßen.
Die Krankheit hat vier schwerwiegende Konsequenzen: Entstellung durch Zerstörung des Gesichts, Unfähigkeit zu essen und zu sprechen, soziale Stigmatisierung und, in ungefähr 80 Prozent der Fälle, den Tod.
Der Anblick des zerfressenen Gesichts, der bloß liegenden Knochen ruft bei den meisten Angehörigen Scham und Ablehnung hervor. Sie versuchen dann, das Kind zu verstecken, was natürlich verhindert, dass die notwendigen therapeutischen Maßnahmen ergriffen werden können.
Der Tod tritt im Allgemeinen in den Monaten nach Zusammenbruch des Immunsystems ein: durch Nekrose, Blutvergiftung, Lungenentzündung oder blutigen Durchfall. 50 Prozent der erkrankten Kinder sterben dann nach drei bis fünf Wochen.
Die Noma kann auch ältere Kinder, in Ausnahmefällen sogar Erwachsene, befallen.
Auf die Überlebenden wartet ein Martyrium.
In den meisten traditionellen Gesellschaften Schwarzafrikas, der Gebirge Südostasiens oder des Andenhochlands sind die Noma-Opfer mit einem Tabu belegt, sie werden wie eine Strafe empfunden 72 und vor den Augen der Nachbarn versteckt.
Die kleinen Opfer werden aus der Gesellschaft entfernt, isoliert, zu Einsamkeit und Verlassenheit verurteilt.
Sie schlafen bei den Tieren.
Die Schande – das Tabu – der Noma verschont auch die Staatschefs der betroffenen Länder nicht.
Das habe ich eines Nachmittags im Mai 2009 erkannt – und zwar im Präsidentenpalast von Dakar, bei Abdoulaye Wade, dem Staatspräsidenten von Senegal.
Wade ist ein kultivierter, intelligenter Akademiker und gründlich mit allen Schwierigkeiten und Problemen seines Landes vertraut.
Damals war er Vorsitzender der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC). Mit der Gruppe der blockfreien Staaten bildet die OIC, die 53 Mitgliedsstaaten zählt, den größten »Stimmblock« der Vereinten Nationen.
Wir sprachen über die Strategie der Organisation im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Die Analysen von Präsident Wade waren wie gewöhnlich
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