Wir lassen sie verhungern
bislang ein Mitgliedsstaat ihretwegen Hilfe erbeten.
In der Hauptstadt jedes Mitgliedslandes unterhält die WHO ein Büro mit einem Vertreter und zahlreichen einheimischen Mitarbeitern. Das Büro hat den Auftrag, die Gesundheitssituation des betreffenden Landes ständig zu überwachen. Die Vertreter durchkämmen Stadtviertel, Dörfer und Nomadenlager. In der Hand halten sie eine detaillierte Kontrollliste, in der alle Krankheiten vermerkt sind, die es zu überwachen gilt.
Wenn ein einschlägig Kranker entdeckt wird, muss er den örtlichen Behörden gemeldet und in das nächstgelegene Ambulatorium verbracht werden.
Aber die Noma steht nicht auf der WHO-Liste.
Mit Philippe Rathle und Iona Cismas, meiner Mitarbeiterin im Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats, bin ich nach Bern gefahren, um das Bundesamt für Gesundheit auf das Problem hinzuweisen. Der hohe Beamte, der uns empfing, weigerte sich, in der Weltgesundheitsversammlung eine entsprechende Resolution einzubringen, was er wie folgt begründete: »Auf der Kontrollliste sind schon viel zu viele Krankheiten.«
Die von der Stiftung Winds of Hope angeführte NGO-Koalition hat einen Aktionsplan gegen die Noma aufgestellt. Man will die Prävention verbessern, indem man Gesundheitsbeauftragte und Mütter ausbildet, die die ersten Symptome der Krankheit erkennen können; die Noma in nationale und internationale epidemiologische Überwachungssysteme einbeziehen; ethologische (das Verhalten erfassende) Studien durchführen.
Schließlich muss dafür gesorgt werden, dass in den örtlichen Ambulatorien zum niedrigstmöglichen Preis Antibiotika und genügend Nährstofflösungen für die intravenöse Verabreichung vorhanden sind.
Die Umsetzung dieses Aktionsplans kostet Geld … das die NGOs nicht haben. 82
Die Menschen, die gegen die Noma kämpfen, sind in einem Teufelskreis gefangen.
Einerseits ist die Tatsache, dass die Noma in den Listen und Berichten der WHO fehlt und dass sie keine öffentliche Aufmerksamkeit erhält, auf den Mangel an wissenschaftlichen Informationen über Ausmaß und Bösartigkeit der Krankheit zurückzuführen. Doch andererseits wird man keine gründlichen und umfassenden Nachforschungen anstellen und die internationale Öffentlichkeit nicht hinreichend mobilisieren können, solange die WHO und die Gesundheitsminister der Mitgliedsstaaten jedes Interesse an dieser Krankheit, die ausgerechnet die Kleinsten und Ärmsten trifft, vermissen lassen.
Natürlich haben auch die Pharmakonzerne, die bei der WHO großen Einfluss besitzen, kein Interesse an der Noma: Die Opfer haben kein Geld.
In den Ländern der südlichen Hemisphäre wird die Noma erst dann so gründlich ausgerottet sein, wie es in Europa der Fall ist, wenn ihre Ursachen – Unter- und Mangelernährung – endgültig besiegt sind.
71 www.windsofhope.org. Die Organisation hat ihren Sitz in Lausanne.
72 Der BBC-Regisseur Ben Fogiel meint dazu: »Die Noma ist wie eine Bestrafung für ein Verbrechen, das Sie nicht begangen haben.« BBC-Sendung »Make me a new face«, Juni 2010; ein Film, der den Kampf der bririschen NGO Facing Africa gegen die Noma in Nigeria beschreibt.
73 www.sentinelles.org. »Sentinelles au secours de l’innocence meurtrie« (Wächter zur Unterstützung der gepeinigten Unschuld), von Edmond Kaiser in Lausanne gegründet.
74 Kurt Bos und Klaas Marck, »The surgical treatment of noma«, Dutch Noma Foundation, 2006.
75 Klaas Marck, »A history of noma, The Face of Poverty«, Plastic and Reconstructive Surgery , April 2003.
76 Cyril Enwonwu, »Noma, The Ulcer of Extreme Poverty«, New England Journal of Medicine , Januar 2006.
77 Ebd.
78 Leila Srour, »Noma in Laos, stigma of severe poverty in rural Asia«, American Journal of Tropical Medicine and Hygiene , Nr. 7, 2008.
79 www.nonoma.org.
80 Vgl. Alexander Fieger, »An estimation of the incidence of noma in North-West Nigeria«, Tropical Medicine and International Health , Mai 2003.
81 ebd.
82 Bertrand Piccard, »Notre but: mettre sur pied une journée mondiale contre le noma«, Tribune médicale , 29. Juli 2006.
ZWEITER TEIL
Das Erwachen des Bewusstseins
1
Der Hunger als Schicksal
Malthus und die natürliche Auslese
Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts unterlag der Hunger einem Tabu. Schweigen bedeckte die Massengräber. Das Massaker war schicksalhaft. Wie die Pest im Mittelalter galt der Hunger als unvermeidliche Geißel – ihrer Natur nach gefeit gegen alle Bestrebungen des menschlichen
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