Wir lassen sie verhungern
brillant.
Im Fortgehen fragte ich ihn nach der Noma, um ihn an seine Verantwortung zu erinnern und ihn dazu zu bringen, ein nationales Programm zum Kampf gegen diese schreckliche Krankheit aufzulegen.
Abdoulaye Wade warf mir einen fragenden Blick zu: »Aber was reden Sie da? Ich weiß nichts von dieser Krankheit. Bei uns gibt es keine Noma.«
Nun hatte ich an diesem Morgen in Kaolack gerade zwei Vertreter von Sentinelles 73 getroffen, einem in der Schweiz ansässigen gemeinnützigen Kinderhilfswerk, das versucht, die gemarterten Kinder in ihren Verstecken aufzuspüren und die Mütter zu überreden, sie in örtliche Ambulatorien zu bringen oder – in schwereren Fällen – in die Universitätskliniken von Genf oder Lausanne überführen zu lassen. Von diesen Mitgliedern hatte ich ein genaues Bild der schrecklichen Krankheit erhalten, die nicht nur an der Petite-Côte um sich greift, sondern auch in allen anderen ländlichen Gebieten Senegals.
Philippe Rathle, der Generalsekretär von Winds of Hope, schätzt, dass in der Sahelzone nur etwa 20 Prozent der gemarterten Kinder entdeckt werden.
Bleibt die Chirurgie. Ehrenamtlich tätige Chirurgen an den europäischen Krankenhäusern in Paris, Berlin, Amsterdam, London, Genf oder Lausanne, aber auch etliche afrikanische Ärzte, die vor Ort in schlecht ausgerüsteten Ambulatorien praktizieren, vollbringen wahre Wunder. Sie nehmen plastisch-rekonstruktive Eingriffe von oft extremer Komplexität vor.
Klaas Marck und Kurt Bos arbeiten an einem der wenigen Krankenhäuser Afrikas, die auf die Behandlung von Noma spezialisiert sind – dem Noma Children Hospital von Sokoto in Nigeria.
Dabei nutzen sie ihre Erfahrung 74 : Die Unfallchirurgie hat Fortschritte gemacht, und die gepeinigten Noma-Kinder profitieren davon, wenn man so sagen darf.
Doch zur Wiederherstellung, und sei sie nur partiell, muss das verstümmelte Gesicht dieser Kleinen fünf bis sechs äußerst schmerzhaften Operationen unterzogen werden. In vielen Fällen wird nur eine teilweise Rekonstruktion des Gesichts möglich sein.
Während ich diese Zeilen schreibe, liegen vor mir auf dem Tisch Fotografien von kleinen Mädchen und Jungen zwischen vier und sieben Jahren, mit Kiefersperre, durchlöcherten Gesichtern und verrutschten Augen. Entsetzliche Bilder. Etliche dieser Kleinen versuchen zu lächeln.
Die Krankheit hat eine lange Geschichte. Klaas Marck, plastischer Chirurg aus Holland, hat sie nachgezeichnet. 75
Seit der Antike kennt man ihre Symptome. Den Namen Noma verdankt sie Cornelius van der Voorde aus Middelburg in den Niederlanden, der ihn 1685 in einer Schrift über die Gesichtsgangräne verwendet hat. Während des gesamten 18. Jahrhunderts ist in Nordeuropa relativ viel über die Krankheit geschrieben worden. Dabei wurde die Verbindung von Noma mit Kindheit, Armut und Mangelernährung hervorgehoben. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war sie über ganz Europa und Nordafrika verbreitet.
Ihr Rückzug aus diesen Regionen liegt vor allem daran, dass sich die sozialen Verhältnisse ihrer Bewohner verbesserten, dass extreme Armut und Hungersnot verschwanden.
Zwischen 1933 und 1945 ist sie dann wieder in den Nazilagern, vor allem in Bergen-Belsen und Auschwitz, massiv aufgetreten.
Jahr für Jahr sucht sich die Noma 140000 neue Opfer. 100000 von ihnen sind Kinder zwischen einem und sechs Jahren in Schwarzafrika. Der Anteil der Überlebenden ist schwankend, liegt aber bei etwa 10 Prozent, mit anderen Worten: Jedes Jahr gehen mehr als 120000 Menschen an der Noma zugrunde. 76 Einigermaßen verlässliche Daten gibt es nur für Afrika. Für Asien und Lateinamerika fehlt die Feldforschung.
Auf dem Leben der Noma-Kinder scheint von Anfang an ein Fluch zu liegen. In der Regel werden sie von extrem unterernährten Müttern geboren, das heißt, die Mangelernährung der Kinder beginnt schon im Mutterleib. Ihr Wachstum ist bereits verzögert, noch bevor sie auf die Welt kommen. 77
Meist tritt die Noma ab dem vierten Kind auf. Die Mutter hat keine Milch mehr. Von den vorhergehenden Schwangerschaften ist sie geschwächt. Außerdem gilt, je größer die Familie, desto mehr muss die Nahrung aufgeteilt werden. Die Letztgeborenen sind die Verlierer.
In Mali gelingt es nur etwas mehr als 25 Prozent der Mütter, ihre Säuglinge normal und über den erforderlichen Zeitraum zu stillen. Die anderen, die große Mehrheit der Frauen, können es aufgrund von Unterernährung nicht.
Ein anderer Grund dafür, dass
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