Wir lassen sie verhungern
Willens, sie zu beseitigen.
Mehr als irgendein anderer Denker hat Thomas Malthus zu dieser fatalistischen Auffassung der menschlichen Geschichte beigetragen. Wenn das kollektive Gewissen Europas zu Beginn der Moderne blind und taub blieb gegenüber dem Hungertod von Millionen Menschen, wenn es sogar glaubte, in dem täglichen Massaker eine vernünftige Form demografischer Regulierung erkennen zu können, so ist das großenteils ihm zu verdanken – und seiner wahnwitzigen Idee von der »natürlichen Auslese«.
Malthus kam am 4. Februar 1766 in Rookery zur Welt, einem bescheidenen Ort in der Grafschaft Surrey im Südosten Englands. Sein Vater war Anwalt, seine Mutter die Tochter eines wohlhabenden Apothekers.
Am 3. September 1783 wurde in einem kleinen Pariser Hotel in der Rue Jacob zwischen Benjamin Franklin, dem Unterhändler des amerikanischen Kongresses, und dem Abgesandten von König Georg III., der Vertrag von Paris abgeschlossen, der den Vereinigten Staaten von Amerika die Unabhängigkeit garantierte. Der Verlust dieser nordamerikanischen Kolonie hatte in England erhebliche Rückwirkungen.
Die Aristokratie, die von ihren Einkünften aus den amerikanischen Plantagen und dem Kolonialhandel lebte, verlor einen Großteil ihrer wirtschaftlichen Macht und wurde von der enorm aufstrebenden Industriebourgeoisie abgelöst. Es entstanden riesige Fabriken – vor allem in der Textilindustrie. Aus der Ehe zwischen Kohle und Eisen ging eine gewaltige Eisen- und Stahlindustrie hervor. Daraufhin strömten Millionen Bauern und ihre Familien in die Städte.
Malthus hatte am Jesus College in Cambridge ein brillantes Studium absolviert, lehrte dort drei Jahre lang Moraltheologie, wurde dann Pfarrer der anglikanischen Kirche und verschaffte sich eine Pfarrstelle in Albury, im heimatlichen Surrey.
Doch in London hatte er das empörende Schauspiel des Elends erlebt. Die entwurzelten, zum Lumpenproletariat herabgesunkenen Menschen litten Hunger. Nach dem Verlust ihrer sozialen Identität verfielen viele dem Alkohol. Nie sollte er diese Mütter mit den bleichen, von Unterernährung gezeichneten Gesichtern vergessen, diese bettelnden Kinder. Oder auch die Prostitution und die Elendsquartiere.
Eine Frage wurde ihm zur Obsession: Wie ließen sich diese Proletariermassen und ihre zahllosen Kinder ernähren, ohne die Versorgung der ganzen Gesellschaft zu gefährden?
Noch vor Abfassung seines berühmten Essays über das Bevölkerungsgesetz wurden in einer ersten Schrift die Grundzüge seines Lebenswerks erkennbar. Dort heißt es: »die Bevölkerung und die Nahrung … die einander stets hinterherlaufen«. Und: »Das Hauptproblem unserer Zeit ist das Problem der Bevölkerung und ihres Lebensunterhalts.« Oder auch: »Die Menschen haben die allen Lebewesen gemeinsame, immer währende Tendenz, ihre Art über das ihnen zur Verfügung stehende Nahrungsangebot hinaus zu vermehren.« 83
1798 erschien seine berühmte Schrift An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society (»Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, wie es sich auf die künftige Verbesserung der Gesellschaft auswirkt«). 84 Sein Leben lang sollte Malthus das Werk immer wieder überarbeiten, erweitern und ganze Kapitel neu schreiben, bis er die letzte Fassung 1833, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte.
Die zentrale These des Buchs macht er an einem Widerspruch fest, den er für unüberwindlich hält:
»Im Tier- und Pflanzenreich hat die Natur zwar die Lebenskeime mit verschwenderischer Hand ausgestreut, aber im Verhältnis dazu mit Raum und Nahrungsmitteln gegeizt. Wenn die Keime, die unser winziger Planet enthält, genügend Nahrung und Raum hätten, um sich ungehindert zu entwickeln, würden sie im Laufe einiger tausend Jahre Millionen Welten füllen. Aber die Notwendigkeit, dieses gebieterische, tyrannische Naturgesetz, hält sie in den vorgeschriebenen Grenzen. Die Reiche der Pflanzen und Tiere müssen sich einschränken, um diese Grenzen nicht zu überschreiten. Selbst das Menschengeschlecht kann, trotz seiner Vernunft, dem Gesetz nicht entgehen. Im Reich der Pflanzen und der Tiere entfaltet es seine Wirkung, indem es die Samen verschwendet und für Krankheit und frühzeitigen Tod sorgt, beim Menschen besorgt es dies durch Not und Elend.«
Für Pfarrer Malthus ist das »Gesetz der Notwendigkeit« ein anderer Name für Gott.
»Nach diesem Bevölkerungsgesetz – das sich, mag es (auf solche Weise dargelegt) auch
Weitere Kostenlose Bücher