Wir lassen sie verhungern
nach Hause zurück. Von da an verschwanden alle Produkte nach und nach vom Markt: zuerst die Eier, dann Fleisch, Weizenmehl, Kaffee, Milch, Schokolade, Tee, Fischkonserven, Obst und Gemüse und schließlich auch Käse und Frischmilch – und alles landete im Schlund der Deutschen.« 116
In den Niederlanden und in Norwegen starben Zehntausende am Hunger oder seinen Folgen. Kwashiorkor, Blutarmut, Tuberkulose, Noma grassierten unter den Kindern.
Praktisch in allen besetzten Gebieten machten die Menschen Ähnliches durch. In zahlreichen Ländern verschärfte sich der Mangel an tierischen Proteinen dramatisch. Welche Proteinmenge die Besatzer pro Kopf der Bevölkerung für notwendig hielten, schwankte – je nach Land, Bevölkerungskategorie und Gutdünken des zuständigen Gauleiters – zwischen 10 und 15 Gramm am Tag. Die Fettration sank rapide: In Belgien fiel sie von 30 Gramm auf 2,5 Gramm pro Tag und Erwachsenem.
In der von Berlin festgelegten Rassenhierarchie rangierten die Slawen ganz unten auf der Stufenleiter, unmittelbar über den Juden, Zigeunern und Schwarzen. Daher war die Lebensmittelrationierung in Osteuropa besonders grausam.
In den besetzten Ländern Osteuropas fiel die Tagesration eines Erwachsenen rasch unter 1000 Kilokalorien pro Tag (wir erinnern uns: Überlebensnotwendig sind 2200 Kilokalorien). Schon bald entsprach sie der eines Häftlings in den Konzentrationslagern.
Sie bestand vor allem aus oft verfaulten Kartoffeln und Brot, das häufig verschimmelt war.
1943 gelang es Maria Babicka, einen Bericht über die polnische Nahrungssituation aus dem Land hinauszuschmuggeln. Er wurde im Journal of the American Dietetic Association veröffentlicht. Babicka schrieb: »Das polnische Volk ernährt sich von Hunden, Katzen und Ratten und kocht sich Suppen aus den Fellen von Aas oder Baumrinde.« 117
Im Winter 1942 wurde die tägliche Ration eines erwachsenen Polen im Mittel auf 800 Kilokalorien reduziert. Die Folge: Die Bevölkerung litt unter Hungerödemen, Tuberkulose, der fast vollkommenen Unfähigkeit, normal zu arbeiten, und einer rasch zunehmenden Antriebslosigkeit infolge von Blutarmut. 118
Die Nazistrategie, die darauf abzielte, bestimmte Bevölkerungen oder Bevölkerungsgruppen durch Hunger zu schwächen oder zu vernichten, wurde in verschiedenen Spielarten umgesetzt.
In Himmlers Reichssicherheitshauptamt war beispielsweise ein wissenschaftlicher Plan – der »Hungerplan« – ausgearbeitet worden, um bestimmte Bevölkerungsgruppen, die dem »unwerten Leben« zugerechnet wurden, durch Hunger zu vernichten. 119
Mit Vorliebe haben sich die Henker des Reichssicherheitshauptamtes die Juden und Zigeuner vorgenommen. Zu ihrer Vernichtung waren ihnen alle Mittel recht: Gaskammern, Massenhinrichtungen und eben der Hunger.
In den jüdischen Gettos von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer waren, durch Mauern hermetisch abgeschottet und von SS-Posten »geschützt«, manchmal Hunderttausende von Menschen eingepfercht, die auf eine »schwarze Diät« gesetzt wurden, sodass viele ihrer Bewohner schließlich verhungerten. 120
Das erinnert mich an einen Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald in Thüringen.
Die Baracken der Häftlinge, das Lazarett, die Hinrichtungskammer (der mit Handschellen an einen Stuhl gefesselte Häftling wurde von einem SS-Mann durch Genickschuss getötet), die SS-Kasernen, die beiden Verbrennungsöfen, der sogenannte Appellplatz, wo jeden Tag ausgewählte Gefangene aufgehängt wurden, die Villa des Kommandanten und seiner Familie, die Schornsteine, Küchen, die Massengräber – das alles liegt auf einem idyllischen Hügel, den man durch den namengebenden Buchenwald zu Fuß erklimmt, nachdem man das in einem Tal gelegene Weimar verlassen hat, wo zu einer anderen Zeit Johann Wolfgang von Goethe bis zu seinem Tod im Jahr 1832 lebte und arbeitete.
Gleich nach Eintritt in das Lager, hinter dem grauen, heute verrosteten Eisentor, stößt der Besucher auf ein eingezäuntes Gelände, groß wie ein Fußballfeld, das von drei Meter hohen Stacheldrahtrollen umgeben ist. Der Fremdenführer, ein junger DDR-Bürger, erklärt uns mit neutraler Stimme: »Dort hat die Lagerleitung [er sagt ›Lagerleitung‹ und nicht ›Nazis‹] die Häftlinge verhungern lassen … Die Einfriedung wurde zum ersten Mal 1940 bei der Ankunft der polnischen Offiziere verwendet.«
Hier wurden mehrere Tausend polnische Gefangene eingepfercht. Sie mussten abwechselnd schlafen, weil sie selbst
Weitere Kostenlose Bücher