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Wir lassen sie verhungern

Wir lassen sie verhungern

Titel: Wir lassen sie verhungern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziegler Jean
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aufrecht stehend kaum genügend Platz hatten. Tag und Nacht mussten die Häftlinge, aneinander gepresst, auf den Beinen ausharren. Sie bekamen gar nichts zu essen und mussten sich mit ein paar Tropfen Brackwasser begnügen, die aus zwei eisernen Wasserleitungen kamen. Ohne Dach und Decken waren sie der Witterung hilflos ausgeliefert. Man hatte sie im November nach Buchenwald gebracht: Als Schutz hatten sie lediglich ihre Mäntel.
    Der Schnee legte sich ihnen auf Kopf und Schultern. Drei Wochen dauerte ihr Todeskampf. Dann traf die nächste Gruppe polnischer Offiziere ein.
    Rund um den Stacheldraht hatte die SS MG-Nester aufgebaut. Jede Flucht war ausgeschlossen.
    Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 durchstöberte der Historiker Timothy Snyder die jetzt zugänglich gewordenen Archive und beschrieb, welche Qualen die sowjetischen Kriegsgefangenen erlitten, die von den Nazis zur Vernichtung durch Hunger bestimmt wurden. 121
    Die Nazimonster waren, wie gesagt, grausige Buchhalter. In jedem Lager – egal, ob sein Zweck Zwangsarbeit, Ausrottung durch Gas oder Vernichtung durch Hunger war – musste ein »Lagerbuch« geführt werden.
    In zahlreichen dieser Lagerbücher berichten die SS-Männer mit aller Ausführlichkeit über wiederholte Fälle von Kannibalismus, die sie höchst erfreut vermerkten, sahen sie doch in dem Kannibalismus, zu dem sich die jungen, dem Hungertod nahen Rotarmisten hinreißen ließen, den endgültigen und unwiderleglichen Beweis für die barbarische Wesensart des slawischen Menschen.
    Unter anderem ergaben Snyders Recherchen, dass in einem der Lager, in dem die Vernichtung durch Hunger praktiziert wurde, mehrere Tausend Kriegsgefangene aus der Ukraine, Russland, Litauen und Polen ein Gesuch unterzeichneten, das sie dem Lagerkommandanten übergaben.
    Sie baten darum, erschossen zu werden.
    Für mich ist unfassbar, wie blind das alliierte Oberkommando während der ganzen Dauer des Krieges für die Nazistrategie war, bestimmte Bevölkerungsgruppen in den besetzten Gebieten durch Hunger zu kontrollieren und später zu vernichten.
    In Buchenwald fiel mir auf, dass es nur diesen einen Schienenstrang gab, diese Gleise, die sich, inzwischen fast bukolisch von einer Vegetation aus Gräsern und Wiesenblumen überwuchert, durch die malerische, friedliche Landschaft Thüringens schlängelten.
    Kein amerikanischer, englischer oder französischer Bomber hat sie je zerstört.
    Jahrelang trafen die Züge mit den Häftlingen völlig unbehelligt am Fuß des Hügels ein.
    Freunde von mir, die Auschwitz besichtigt haben, kamen mit der gleichen Empörung, dem gleichen Unverständnis zurück: Der einzige Schienenstrang, der bis Anfang 1945 diese Todesfabrik täglich belieferte, wurde nie zerstört.
    Im Herbst 1944 befreiten die alliierten Streitkräfte den südlichen Teil der Niederlande. Dann setzten sie ihren Weg nach Osten fort und drangen in Deutschland ein, wobei sie den gesamten Norden Hollands – vor allem die Städte Rotterdam, Den Haag und Amsterdam – aussparten und der Schreckensherrschaft der Gestapo überließen. Zu Tausenden wurden die Widerstandskämpfer verhaftet. In den Familien wütete der Hunger. Die staatliche Eisenbahn fiel völlig aus. Der Winter kam, und vom Land gelangte kaum noch Nahrung in die Städte.
    Max Nord schreibt im Katalog der Fotoausstellung »Amsterdam im Winter und Hunger«: »Der Westteil Hollands lebte in bitterer Hoffnungslosigkeit und größter Not, ohne Nahrung und Kohle … Es gab kein Holz für Särge, daher wurden lange Reihen von Leichen in den Kirchen aufgestapelt … ohne sich um uns zu kümmern, marschierten die alliierten Streitkräfte in Deutschland ein.« 122
    Auch Stalin hat sich während des Zweiten Weltkriegs durch Hungermassaker hervorgetan.
    So berichtet Adam Hochschild von der eisigen Nacht im Februar 1940, in der die sowjetische Geheimpolizei 139794 Polen verhaftete. Dabei handelte es sich um ganze Familien, was folgende Bewandtnis hatte: Die sowjetischen Besatzungstruppen im Osten Polens hatten den gefangenen polnischen Soldaten und Offizieren erlaubt, mit ihren Familien zu korrespondieren. So brachte die Geheimpolizei die Adressen der Familien in Erfahrung. In dieser Februarnacht des Jahres 1940 holten sich die NKWD-Killer die Kinder, Ehefrauen und Eltern ihrer Kriegsgefangenen, um sie zu deportieren. In Viehwaggons schickten sie sie auf die Reise nach Sibirien. Da die Lager des Gulag bereits überbelegt waren, musste sich die Polizei der Tausende

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