Wir lassen sie verhungern
Generalversammlung bildet ihr Parlament.
Der Wirtschafts- und Sozialrat koordiniert die Arbeit der Sonderorganisationen (FAO, WHO, ILO, WMO usw.). Er setzt sich aus Botschaftern und Botschafterinnen zusammen, mit anderen Worten, aus Repräsentanten von Staaten. Der Menschenrechtsrat, der die Anwendung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung durch die Mitgliedsstaaten überwacht, umfasst 47 Staaten.
Nun ist aber zur Genüge bekannt, dass moralische Überzeugungen, Hingabe, Empfinden für Gerechtigkeit und Solidarität nicht unbedingt zum Wesen des Staates gehören. Sein Beweggrund ist eher die nach ihm benannte Denkweise – die Staatsräson.
Bis heute wirken sich diese Einschränkungen aus.
Das ändert nichts daran, dass dem Bewusstsein des Westens nach dem Krieg ein Erweckungserlebnis widerfuhr: Es brach das Tabu des Hungers.
Die Völker, die Hunger erduldet hatten, waren nicht mehr bereit, die Doxa der Schicksalhaftigkeit hinzunehmen. Sie wussten sehr wohl, dass der Hunger eine Waffe war, die die Besatzer gegen sie eingesetzt hatten, um ihren Willen zu brechen und sie zu vernichten. Das hatten sie am eigenen Leibe erfahren. Entschlossen beteiligten sie sich deshalb am Kampf gegen die Geißel – an der Seite von Josué de Castro und seinen Mitstreitern.
123 Josué de Castro, Geopolitik des Hungers , a. a. O., S. 337.
124 a. a. O., S. 345.
125 Vgl. das schöne Buch von Edgar Pisani, Un Vieil Homme et la terre , Paris, Éditions du Seuil, 2004 ; ders., Vive la révolte!, Paris, Éditions du Seuil, 2006.
126 a. a. O., S. 345.
127 Die vier Freiheiten standen bereits im Mittelpunkt des New Deal , des Programms, mit dem er 1932 Präsident geworden war.
128 John Boyd Orr, The Role of Food in Postwar Reconstruction , Montreal, Bureau International du Travail, 1943.
129 Es kann keine wahre individuelle Freiheit ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit geben. Menschen, die Not leiden, sind nicht frei. Völker, die hungrig oder arbeitslos sind, liefern den Stoff, aus dem Diktaturen gemacht werden.
Heute halten wir diese wirtschaftlichen Wahrheiten für selbstverständlich. Wir brauchen eine zweite Menschenrechtserklärung, nach deren Maßgabe wir eine neue Grundlage für die Sicherheit und den Wohlstand aller schaffen können – unabhängig von Herkunft, Rasse oder Religion.« Franklin D. Roosevelt, Rede vom 11. Januar 1944 vor dem Kongress der Vereinigten Staaten.
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Josué de Castro, Epoche zwei: Ein sehr lästiger Sarg
1961 wurde in Brasilien João Goulart, der Kandidat der brasilianischen Arbeiterpartei (PTB) zum Präsidenten der Republik gewählt. Er leitete sofort eine Reihe von Reformen ein, vorrangig die Agrarreform.
Josué de Castro ernannte er zum Botschafter am europäischen Sitz der Vereinten Nationen in Genf.
Dort habe ich ihn kennengelernt. Auf den ersten Blick war er ganz der Bourgeois aus Pernambuco, bis hin zur unaufdringlichen Eleganz seiner Kleidung. Hinter seiner filigranen Brille lag ein ironisches Lächeln. Er sprach mit leiser Stimme, war liebenswürdig, aber zurückhaltend, sehr sympathisch und von unübersehbarer moralischer Integrität.
Castro erwies sich als kompetenter und gewissenhafter Missionschef, aber wenig geneigt, sich dem Lebensstil des diplomatischen Korps anzupassen. Seine beiden Töchter Anna-Maria und Sonia sowie sein Sohn Josué besuchten die staatliche Schule in Genf.
Der Posten in Genf hat ihm mit Sicherheit das Leben gerettet.
Als nämlich General Castelo Branco, ferngesteuert vom Pentagon, die brasilianische Demokratie zerstörte, standen ganz oben auf der ersten von den Putschisten veröffentlichten Liste der »Vaterlandsfeinde« die Namen von João Goulart, Leonel Brizola 130 , Francisco Julião, Miguel Arraes und Josué de Castro.
Bei Tagesanbruch des 10. April 1964 umstellten Fallschirmjäger den Regierungspalast von Recife. Miguel Arraes war bereits an seinem Arbeitsplatz. Er wurde entführt und verschwand. Eine ungeheure Woge internationaler Solidarität zwang seine Peiniger jedoch, ihn wieder freizulassen. Wie Castro und Julião war Arraes in ganz Lateinamerika zu einem Symbol des Kampfes gegen den Hunger geworden.
Es folgten zehn Jahre des Exils, zunächst in Frankreich, dann in Algerien. 1987 traf ich Arraes wieder. Nach dem Ende der Diktatur war er erneut zum Gouverneur von Pernambuco gewählt worden. Sogleich hatte er die Arbeit wieder aufgenommen, die er zwanzig Jahre zuvor hatte liegenlassen müssen. Mit seiner heiseren, kaum
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