Wir lassen sie verhungern
Idee verführerisch: Garantiert der humanitäre Korridor nicht mitten im Krieg die ungehinderte Zufahrt der Hilfsfahrzeuge? Andererseits aber signalisiert er den kriegführenden Parteien, dass außerhalb dieser Zone alles erlaubt ist, auch das, was die Genfer Konventionen und die anderen Völkerrechtsnormen zum Schutz der Zivilbevölkerung und Umwelt im Kriegsfall verbieten: Vergiftung von Brunnen und Böden, Abschlachten von Vieh, Verbrennen von Ernten, Verwüstung von Äckern und Feldern.
Im Westsudan, in Nordkenia, Westpakistan, Afghanistan, Somalia werden die Lastwagen des WFP (wie die aller anderen Hilfsorganisationen) regelmäßig von bewaffneten Banden und kriegführenden Parteien angegriffen. Die Frachtgüter werden geplündert, die Fahrzeuge angesteckt, die Fahrer gelegentlich ermordet. Alle Männer und Frauen im Dienst von WFP (IKRK, ACF, Oxfam oder anderen mit ähnlichen Aufgaben befassten NGOs) verdienen höchsten Respekt. Denn auch sie setzen bei jeder Reise ihr Leben aufs Spiel.
Das WFP ist eine höchst komplexe Organisation. Auf fünf Kontinenten unterhält sie Hilfsdepots. Wenn die Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt kurzfristig sinken, legt das WFP Tausende Tonnen an Vorräten an.
Es besitzt einen Fuhrpark von 5000 Lastwagen mit besonders qualifizierten Fahrern.
In zahlreichen Ländern muss es Unterverträge abschließen, etwa in Nordkorea, wo die Armee das Monopol (und damit auch die Kontrolle) über das Transportwesen hat. In anderen Ländern besitzen nur die einheimischen Fahrer ausreichende Kenntnisse über die Straßenverhältnisse – die Tücken, Schlaglöcher und Abkürzungen –, um die Hilfsgüter sicher an ihren Bestimmungsort zu bringen. Das ist vor allem in Afghanistan der Fall.
Die Transportabteilung des WFP in Rom unterhält auch eine Luftflotte. Im Südsudan sind Hunderttausende von Hungeropfern weder auf dem Land- noch auf dem Wasserweg zu erreichen. Deshalb werfen Frachtflugzeuge Kisten mit Lebensmitteln ab, die an Fallschirmen zu Boden schweben.
Diese Luftflotte des WFP ist bei den Vereinten Nationen sehr beliebt. Zahlreiche Abteilungen nehmen sie in Anspruch, weil die Flugzeuge für ihre Zuverlässigkeit und die Piloten für ihr akrobatisches Können bekannt sind. Im Westsudan sorgen mehrere zehntausend Soldaten und Polizisten aus den Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union (vor allem aus Ruanda und Nigeria), so gut sie können, für die Sicherheit der siebzehn Lager mit Vertriebenen aus den drei vom Bürgerkrieg heimgesuchten Darfur-Provinzen. Sie werden koordiniert von der Hauptabteilung Friedenssicherungseinsätze (DPKO) des UN-Sekretariats in New York. Die afrikanischen Soldaten und Polizisten lässt das DPKO mit Flugzeugen des WFP nach Darfur bringen.
Die Soforthilfen des WFP habe ich in Zentral- und Südasien, in der Karibik, in Ost- und Zentralafrika erlebt. Häufig kam ich mit seinen Führungsleuten und Mitarbeitern zusammen und entdeckte oft außergewöhnliche menschliche Eigenschaften an ihnen.
Aus diesen Begegnungen speist sich meine Bewunderung für das WFP.
Daly Belgasmi stammt aus einem jemenitischen Stamm, der vor Jahrhunderten in Zentraltunesien eingewandert ist. Er ist in Sidi Bouzid geboren. Sidi Bouzid ist die Stadt, in der die tunesische Revolution am 17. Dezember 2010 begann. Daly Belgasmi besitzt ein vulkanisches Temperament, ansteckende Lebensfreude und ein bemerkenswert kämpferisches Wesen. Von Haus aus Ernährungswissenschaftler ist er heute ein hochrangiger Funktionär des WFP und kämpft seit fast dreißig Jahren gegen das Schreckgespenst des Hungers.
2002 war er Exekutivdirektor in Islamabad. Der Hunger wütete im Süden und in der Mitte Afghanistans. Zu Tausenden starben die Kinder, Frauen und Männer.
In dieser Zeit ließ das amerikanische Oberkommando zwei Mal das Hauptlebensmittellager des WFP in Kandahar bombardieren und in Brand schießen. Dabei war das Depot unübersehbar mit der UN-Fahne gekennzeichnet und von Rom aus vorschriftsmäßig an das Hauptquartier der US Air Force in dessen Katakomben in Colorado gemeldet worden. Aber da der Süden Afghanistans und vor allem Kandahar von Taliban »verseucht« war, befürchteten die amerikanischen Generäle, dass diese Lebensmittel ihren Feinden in die Hände fallen könnten.
Als der Hunger in Afghanistan immer mörderischer und die von den amerikanischen Truppen de facto verhängte Lebensmittelblockade immer unüberwindlicher wurde, traf Daly Belgasmi eine Entscheidung: In Peshawar
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