Wir lassen sie verhungern
gaben, weil die Entwicklungsländer gebeten haben, die Agrarmärkte stärker zu öffnen, vor allem die der entwickelten Länder, zu denen sie Zugang haben möchten …
Um eine Vorstellung von der Wirklichkeit zu gewinnen, wäre es für Sie am einfachsten, die Vertreter dieser Völker zu fragen, wie sie darüber denken. Genau das hat übrigens Ihr Nachfolger Olivier De Schutter bei einer Diskussion im Ausschuss für Landwirtschaft der WTO getan und eine Antwort erhalten, die keinen Zweifel an der Haltung der betreffenden Länder ließ …
In der Hoffnung, dass diese Erinnerung an einige politische Realitäten Sie in Zukunft daran hindern möge, weiterhin so irreführende Behauptungen aufzustellen, verbleibe ich, mein lieber Jean, mit usw.
Ganz gewiss brauche ich von niemandem den Rat, die Vertreter der Staaten des Südens zu »konsultieren«. Aufgrund meiner heutigen Funktion als Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates komme ich fast täglich mit ihnen zusammen. Manche sind meine Freunde.
Allerdings hat Lamy in einem Punkt recht: Wenige von ihnen protestieren offen gegen die WTO-Strategie im Hinblick auf den Agrarhandel. Der Grund liegt auf der Hand: Zahlreiche Staaten der südlichen Hemisphäre brauchen für ihr Überleben die Entwicklungshilfe, das Kapital und die Infrastrukturkredite der westlichen Staaten. Ohne die regelmäßigen Zuwendungen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (FEE) wären beispielsweise etliche Regierungen Schwarzafrikas, der Karibik und Zentralamerikas außerstande, ihren Ministern, Beamten und Soldaten zwölf Monate im Jahr ihr Gehalt zu bezahlen.
Die WTO ist ein Club der herrschenden und reichen Staaten. Diese Realität mahnt zur Vorsicht.
Pascal Lamy erwähnt die Öffnung der Märkte der Industriestaaten für die Agrarprodukte der Länder des Südens. Darin sieht er den Beweis für die Bereitschaft der WTO, den Bauern in der Dritten Welt zu helfen.
Doch dieser Beweis ist nicht stichhaltig: Auf der Ministerkonferenz der WTO 2003 in Cancún sollte das internationale Übereinkommen über die Landwirtschaft formalisiert werden, das unter anderem die Öffnung der Agrarmärkte des Südens für die internationalen Lebensmittelkonzerne des Nordens vorsah, und zwar als Gegenleistung dafür, dass bestimmten Produkten des Südens der Zugang zu den Märkten des Nordens ermöglicht wurde.
In Cancún hat der brasilianische Botschafter Luiz Felipe de Seixas Corrêa den Widerstand organisiert. Die Länder des Südens verweigerten die Öffnung ihres Marktes für die transkontinentalen Privatkonzerne und ausländischen Staatsfonds.
Cancún war ein komplettes Fiasko. Bis heute wurde das WTO-Übereinkommen über die Landwirtschaft – ein Kernpunkt der in Doha begonnenen Verhandlungsrunde – noch nicht unterzeichnet.
Denn wie jeder im Süden weiß, gehört die von Lamy behauptete Öffnung der Agrarmärkte des Nordens für die Produkte des Südens ins Reich der Illusion. 173
In der Philippika an meine Adresse spricht Lamy von der Aufhebung der Exportsubventionen, die die reichen Länder ihren Bauern zukommen lassen. In der Ministererklärung von Hongkong heißt es in Absatz 6: »Wir vereinbaren den parallelen Abbau aller Formen von Exportsubventionen sowie der Disziplinen, die Exportmaßnahmen mit gleichwertiger Auswirkung betreffen … Dabei werden wir schrittweise und parallel verfahren.« 174
Das Problem ist nur, dass die Verhandlungen zur Aufhebung der Exportsubventionen nie über das Stadium von Absichtserklärungen hinausgelangt sind.
Die Verhandlungen über dieses Agrarabkommen sind an einen toten Punkt gelangt. Und die reichen Staaten fahren fort, ihre Bauern massiv zu subventionieren. Daher kann eine Hausfrau auf jedem afrikanischen Markt – in Dakar, Ouagadougou, Niamey oder Bamako – Gemüse, Obst und Hühner aus Frankreich, Belgien, Deutschland, Spanien, Griechenland … zur Hälfte oder einem Drittel des Preises für das entsprechende afrikanische Produkt kaufen.
Einige Kilometer weiter mühen sich die Bauern der Wolof, Bambara und Mossi nebst ihren Frauen und Kindern unter brennender Sonne zwölf Stunden am Tag ab, ohne die geringste Aussicht, ihr Existenzminimum zu verdienen.
Was Olivier De Schutter, meinen ausgezeichneten Nachfolger, angeht, so hat Lamy dessen Bericht über die Mission bei der WTO ganz offensichtlich nicht gelesen.
Dieser Bericht behandelt im Wesentlichen das Übereinkommen über die Landwirtschaft, das die WTO seit dem Scheitern
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