Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
das Nest sich leert?
In den Industrieländern ist für Eltern diese Phase des leeren Nests länger geworden. Das liegt einerseits daran, dass die Lebensdauer gestiegen ist, andererseits daran, dass sich im Lauf des 20. Jahrhunderts das Geburtsverhalten geändert hat. Wenngleich einige Frauen heutzutage erst spät das erste Kind bekommen, beginnt – und endet – für die meisten die Familienplanung in ihren Zwanzigern beziehungsweise Dreißigern, was nichts anderes bedeutet, als dass sie noch relativ jung sind, wenn die Kinder ausziehen. Nun, da wir wissen, dass die »Phase« länger geworden ist, sollten wir uns aber mal fragen, ob ein derartiges »Leeres-Nest-Syndrom« in seiner »klassischen«, pathologischen Form auch wirklich existiert. Hat der Auszug der Kinder ausschließlich negative Folgen? Sind Frauen davon eher betroffen? Und tritt dieses Syndrom zwangsläufig und immer gleich auf?
In medizinischen Berichten der späten 1960er-Jahre wird das »Leeres-Nest-Syndrom« als durchgängige Reaktion von Müttern auf eine im Moment stattfindende oder gerade erst zurückliegende Entfernung ihrer Teenagerkinder beschrieben, und zwar in zwei unterschiedlichen Varianten. Die »offene« Form geht mitdeutlicher, klar artikulierter Wut sowie heftigen Auseinandersetzungen mit den flüchtenden Kindern einher, wohingegen die »latente« Form sich in allgemeiner Unzufriedenheit und depressiven Zuständen niederschlägt. Erstere glaubte man eher bei Frauen feststellen zu können, die ein schlechteres Bildungsniveau hatten, schon zu Beginn ihrer Ehe schwanger geworden waren, einen kleinen Freundeskreis oder keine Arbeit hatten, vor allem aber bei solchen, die überhaupt nicht verheiratet waren. Ein sehr verstörender Aspekt dieser Herangehensweise war, dass die offene Form eher für Frauen mit »europäischen Werten« beschrieben wurde, die latente hingegen für Frauen mit »amerikanischen«.
Mag der Grundton dieser frühen Berichte uns heute auch seltsam vorkommen, wurden hier doch Fragen aufgeworfen, die immer noch Gültigkeit haben. Etwa die, ob man mit dem Auszug der Kinder besser klarkommt, wenn man einen Job, Freunde oder einen Partner hat, auf die man jetzt vermehrt seine Aufmerksamkeit richten kann. Oder die, wen es mehr trifft – Männer oder Frauen? Oder ob eine Reaktion auf das leere Nest davon abhängt, wie das Leben vorher war?
Nun ist nicht schwer zu begreifen, dass der Weggang eines Kindes für eine rund um ein heterosexuelles Paar gruppierte Kernfamilie eine Erschütterung darstellt, die einen zuvor recht stabilen Zustand beendet. Viele Menschen sind zudem fest davon überzeugt, dass es so etwas wie ein »Leeres-Nest-Syndrom« gibt und dass sie es selbst schon erlebt haben. Sie sagen, es bringe Trauer und Ziellosigkeit mit sich und mache sich auch dadurch bemerkbar, dass man sich im Zimmer oder an Lieblingsplätzen des ausgezogenen Kindes aufhält, um in Erinnerungen zu schwelgen oder gar die emotionale Verbindung wiederherzustellen. Statistischen Erhebungen zufolge ist das Syndrom zu Beginn des akademischen Jahres am stärksten, dann nämlich, wenn die Kinder normalerweise an den Studien- oder Ausbildungsort wechseln.Einen anderen Höhepunkt stellt die Hochzeit eines Kindes dar, selbst wenn die Tochter oder der Sohn das Elternhaus längst verlassen hat – was beweist, dass ein Leeres-Nest-Gefühl durch eine symbolische ebenso wie durch eine räumliche Trennung ausgelöst werden kann. Bei manchen Eltern stellt sich sogar Trauer ein, wenn das jüngste Kind in die Schule kommt.
Aber was ist, wenn sich in diesen Berichten über ein Leeres-Nest-Syndrom einfach eine ganz normale Reaktion auf eine grundlegende Veränderung des Gefühlshaushalts widerspiegelt? Dann würde sich dieses ganze »Syndrom« in Luft auflösen! Es wäre kein eigenständiger und charakteristischer Bestandteil der psychischen Entwicklung, nichts, was in den Tiefen des menschlichen Geistes schlummert, um sich im Middle-Age bemerkbar zu machen. Vielmehr wäre es ein Reflex der Tatsache, dass Kinder oft ausziehen, wenn die Eltern Middle-Ager sind, und dass das bei den Eltern manchmal Trauer hervorruft.
Tatsächlich konnten für einen Zusammenhang zwischen Kindern, die das Haus verlassen, und Eltern, die in Depressionen verfallen, genauso wenig Beweise erbracht werden wie dafür, dass sich die Negativmerkmale der Menopause verstärken. Ganz im Gegenteil: Es gibt etliche Berichte, denen zufolge ein leeres Nest vermehrt zu
Weitere Kostenlose Bücher