Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
»Leeres-Nest-Syndroms« ist, dass es viel zu leichtfertig mit dem Komplex Familie umgeht und damit, wie eine solche funktioniert. Es stützt sich auf die Modellvorstellung von zwei lebenslang verbundenen, heterosexuellen Partnern, einer überschaubaren Anzahl von Kinder, die alle genau dann zur Welt kamen, wenn die Eltern es wollten – all dies in einer weitgehend isolierten Situation, in der ältere Verwandte und erwachsene Kinder ihr eigenes, finanziell unabhängiges Leben führen und ganz weit weg wohnen. Kann sein, dass eine solche Familienstruktur im Bürgertum der Industrieländer in den 1960er-Jahren vorherrschte, als das »Leeres-Nest-Syndrom« erfunden wurde, aber heute gibt es sie in dem Maß nicht mehr. Und wahrscheinlich hat es sie in den Jahrzehnten davor auch nicht gegeben, genauso wenig wie in den Jahr tausenden davor, in denen die Menschheit sich entwickelt hat.
Anstatt uns hier an irgendeinem »Syndrom« aufzureiben, sollten wir uns besser fragen: Wann soll das Nest sich eigentlich leeren? Verabschieden sich die Kinder womöglich zu einem »unnatürlichen« Zeitpunkt, was die Eltern in eine tiefe Krise stürzt?
Für die meisten Menschen leert sich das Nest heutzutage sechzehn bis zwanzig Jahre, nachdem sie sich für ihr letztes Kind entschieden haben. Die Trennung wird also nicht von der Biologie bestimmt, sondern von ihrer einstigen Familienplanung. Das war früher nicht so. Über weite Strecken der Evolution wurden Erwachsene irgendwann Middle-Ager und noch älter, und Frauen wurden schwanger, bis irgendwann jenseits der vierzig ihre Fruchtbarkeit nachließ. Aus dem Grund entstand beim Menschen eine Leeres-Nest-Phase gegen Ende fünfzig. Man könnte auch sagen, dass das Middle-Age als solches als der Zeitraum definiert werden kann, in dem ein Paar, das nicht verhütet, sein letztgeborenes Kind großzieht – also etwa von zweiundvierzig bis achtundfünfzig.
Ein Begleitfaktor bei der Berechung eines »natürlichen« Auftretens des leeren Nests ist, dass es sich heutzutage ungewöhnlich früh leert, weil Paare ab einem gewissen Zeitpunkt ihre Fruchtbarkeit künstlich beschränken. Im Grunde haben nur die »Karrierefrauen«, die eine Schwangerschaft bis vierzig hinausschieben, erst mit Ende fünfzig ein leeres Nest – zu dem »natürlichen« Zeitpunkt also, zu dem das Ereignis in der Menschheitsgeschichte vornehmlich eingetreten ist. Und jetzt kann man darüber spekulieren, ob diese Spätgebärenden sich womöglich genau dann in einem leeren Nest befinden, wenn sie damit von der Natur her auch am besten umgehen können.
Was die Kinder betrifft, zeigt dieses spät angesetzte »natürliche« Auftreten des leeren Nests, dass Menschen über einen extrem langen Zeitraum die Möglichkeit haben, Eltern zu sein. Über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg wurden Kinder sowohl von ganz jungen Eltern als auch Middle-Ager-Eltern aufgezogen – das hing nur davon ab, wie alt Mutter und Vater bei Zeugung des Kindes waren. Tatsächlich ist ein auffälliges Merkmal der menschlichen Biologie, dass Kinder von fruchtbaren Eltern genauso aufgezogen werden können wie von mittlerweile unfruchtbaren. So etwas gibt es bei anderen Säugetieren nicht.
Eine weitere, nach wie vor ungelöste Frage im Zusammenhang mit dem leeren Nest ist, wie weit Kinder sich im Zuge ihrer Unabhängigkeit von den Eltern entfernen »sollen«. Über die Familien- und Sozialstrukturen in grauer Vorzeit wissen wir erstaunlich wenig – meist gehen wir davon aus, dass prähistorische Menschen in Gruppen umherstreiften, die aus mehreren Großfamilien bestanden. Aber wir wissen nicht, ob Eltern aufgrund kultureller oder Umweltbedingungen ihre erwachsenen Kinder bei sich behielten, oder ob sie sie von sich wegstießen. Man kann sich gut vorstellen, dass der Drang, genetisch verwandte Menschen zu unterstützen, den Zusammenhalt von Großfamilien gefördert hat.Genauso gut kann es aber auch sein, dass Familien sich aufgelöst und verteilt haben, um nicht im gleichen Lebensraum um die karge Nahrung zu kämpfen. Anthropologen haben außerdem darauf hingewisen, dass in der frühen Menschheitsgeschichte Traditionen entstanden sein müssen, die zwischen benachbarten Stämmen den Austausch junger Erwachsener regelten. Auf die Art konnte man der Inzucht entgehen, die isolierte Gruppen von Lebewesen ins Verderben führen kann.
In den Industrieländern haben ökonomische Bedingen dazu geführt, dass das Phänomen des leeren Nests dramatische
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