Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
glauben, als das der Fall sein dürfte.Anderen Untersuchungen zufolge manipulieren Menschen ihre gefühlte Lebenserwartung nach oben, um weniger Angst vor dem Sterben zu haben – es scheint, als würden wir unangenehme Erinnerungen weiter in die Vergangenheit und auf uns zukommende Negativerlebnisse weiter in die Zukunft schieben als tatsächlich zutreffend oder zu erwarten.
Ist also vielleicht unser aktives »Zeitmanagement« schuld daran, dass wir den Eindruck haben, die Jahre vergehen immer schneller? Ein Riesenproblem dieser Theorie ist, dass sie nicht das widerspiegelt, was Menschen tatsächlich äußern. Manche haben mehr Angst vor dem Tod als andere, aber ihre Sorgen stehen nicht in Zusammenhang mit ihrer Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit. Man fürchtet sich vor dem Tod – die Zeit vergeht schneller. Beides scheint aber tatsächlich unabhängig voneinander zu existieren. Eine Todesangst macht eine Beschleunigung der Zeit um einiges schlimmer, ist aber mitnichten der Grund dafür.
Theorie Nr. 4: Unsere Erinnerung ist verzerrt, was zur Verzerrung der Zeit führt
Wir alle wissen, dass unser Gedächtnis uns manchmal ganz schöne Streiche spielt. Und da das Gedächtnis für unsere Zeitwahrnehmung so wichtig ist, könnte hier ja die Erklärung dafür liegen, dass auch die Zeit uns Streiche spielt. Oder?
Die meisten von uns erinnern sich an Ereignisse der jüngeren Vergangenheit besser als an solche, die länger zurückliegen. Wir können uns besser merken, was soeben erst passiert ist, in welcher Reihenfolge es passiert ist und in welcher Verbindung es zu anderen Geschehnissen der jüngeren Geschichte steht. Jeder von uns erinnert sich ziemlich genau an all die Dinge, die wir im vergangenen Jahr erlebt haben – und alle fügen sich nahtlos aneinander.Wenn wir jedoch weiter zurückdenken, werden die Erinnerungen nicht nur bruchstückhafter, dazwischen klaffen auch immer mehr Lücken. Man erinnert sich zwar irgendwie, muss aber oft genug zu Eselsbrücken oder anderen Tricks greifen, um sie wachzurufen und in den gewünschten Zusammenhang zu bringen. Ich zum Beispiel orientiere mich an Großereignissen wie etwa der Geburt meiner Kinder oder einen Umzug, um mir kleinere Dinge merken zu können, die mehr als fünf Jahre zurückliegen. Diese kleineren Dinge habe ich klar vor Augen, wenngleich ich nicht mehr richtig weiß, wann genau und in welchem zeitlichen Kontext sie stattgefunden haben.
Es wurde behauptet, dass dieser Verlust eines Zeitgefühls die Illusion hervorruft, die Zeit vergehe schneller. Sicherlich ist die jüngere Vergangenheit geordneter und säuberlicher abgeheftet, aber nach dieser Theorie hat man gleichzeitig den Eindruck, sie würde schneller ablaufen. Wird also die jüngere Vergangenheit subjektiv in einen kürzeren Zeitrahmen »komprimiert«, nur weil sie dadurch übersichtlicher, strukturierter und präsenter wirkt? Und interpretiert das Gehirn andersherum eine durcheinander gewürfelte Ereignisfolge unserer weit zurückliegenden Vergangenheit als etwas, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckt haben muss?
Eins stimmt auf jeden Fall – das Leben ist noch viel, viel komplizierter. Denn ganz offenbar verändert sich unser Vermögen, Dinge in der Vergangenheit zeitlich einzuordnen, im Zuge des Älterwerdens. Das wird nirgends deutlicher als beim Versuch, uns an Ereignisse der Außenwelt zu erinnern. Wenn man Middle-Ager auffordert, ohne groß nachzudenken zu sagen, wie lange eine Sache ihrer Meinung nach zurückliegt, geben sie in schöner Regelmäßigkeit einen viel zu kurzen Zeitraum an. Diesen Fehler können sie schnell wieder gutmachen, indem sie rechnen, nachdenken und anhand anderer Vorkommnisse das richtige Datumherleiten – doch sind sie meist völlig schockiert, wie sehr ihre erste Schätzung danebenlag. Ein Beispiel aus meinem Leben ist, wie regelmäßig ich überrascht darüber bin, dass die Musik, die ich höre – und die mir vertraut und zeitgemäß vorkommt –, zum Großteil vor mehr als zwanzig Jahren aufgenommen wurde. (Vielleicht ziehe ich deshalb ja auch die Grenze zwischen »alter« und »neuer« Popmusik irgendwo um das Jahr 1975 – da war ich sechs.) Alte Menschen machen oft genau das Gegenteil – sie verorten äußere Ereignisse viel weiter zurückliegend als zutreffend, so als wollten sie diese mit dem Idyll ihrer Jugendjahre in Verbindung bringen. Middle-Ager sind wohl gar nicht so erpicht darauf, sich von diesem Idyll zu distanzieren.
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