Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
anderen das getan, was vom Plattenteller dröhnte: »fritter and waste the hours in an offhand way« – die Stunden leichtfertig vertrödelt? (Pink Floyd, »Time«; The Dark Side of the Moon ).
Das Phänomen der beschleunigten Zeit scheint universell zu sein – überall auf der Welt jammern die Menschen darüber, auch in antiken Texten finden sich entsprechende Bemerkungen. Wenn ich meine Studenten an der Uni frage, geben selbst sie zu, dass die Tage nicht mehr ganz so langsam dahintröpfeln wie in ihrer Kindheit, dabei leben Achtzehn- bis Zwanzigjährige nicht unbedingt in dem Gefühl, dass ihnen die Zeit knapp wird. Im Gegensatz dazu kommen einem im fünften und sechsten Lebensjahrzehnt die kürzer werdenden Jahre immer irritierender, ungerechter, vielleicht sogar beängstigend vor. Warum vergeht also die Zeit immer schneller, je älter man wird?
Bevor ich mich an einer Antwort versuche, muss ich vielleicht darauf hinweisen, dass niemand den wahren Grund dafür weiß. Das subjektive Zeitempfinden hat Philosophen, Historiker und Naturwissenschaftler immer wieder beschäftigt, allerdings ohne rechte Ergebnisse. Es scheint anekdotischen Charakter zu haben und unfassbar, also unergründlich zu sein. Nun ja, einige Denker haben viel Zeit und Energie darauf verwendet, deshalb möchte ich doch sechs Theorien vorstellen, die versuchen, das Phänomen zu erklären.
Theorie Nr. 1: Die Welt wird schneller, nicht wir
Dem ersten Ansatz zufolge rührt die Wahrnehmung einer schneller verstreichenden Zeit beim Älterwerden aus dem Umstand, dass Ereignisse in unserer Kultur in immer kürzeren Abständen stattfinden. Wir fühlen uns wohl bei dem Gedanken (er magstimmen oder nicht), dass vor 12 000 Jahren das Leben gemütlich und gleichmäßig verlief – jede prä-ackerbauliche Generation übernahm einfach die Lebensweise der vorhergehenden und machte im gleichen Stil weiter. Kann sein, dass sich das Leben der Menschen im Zuge von Umweltveränderungen langsam auch gewandelt hat, aber dies ging für die einzelnen Individuen unmerklich vor sich, denn keiner lebte ja länger als hundert Jahre. Mit dem Aufkommen des Ackerbaus liefen Veränderungen schneller ab, denn schließlich entstanden Sesshaftigkeit, Besitz, Schriftlichkeit und Großgesellschaftsformen (Staatengebilde, Reiche) innerhalb weniger Jahrtausende. Das war dann der Startschuss für eine zunehmende Beschleunigung kultureller und technischer Innovationen, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen – wer will, kann dazu Fortschritt sagen. Und diese Entwicklung ging in der Tat immer rasanter vor sich – die Wissenschaft hat in den letzten zehn Jahren größere Sprünge gemacht als je zuvor; neue Technologien ermöglichen uns eine Kommunikation, die man früher elektronische Telepathie genannt hätte; Kunst und Literatur verändern sich so rasant, dass sich überhaupt nicht genug Material ansammeln kann, um einen der »-ismen« zu bilden, aus denen die Kunstgeschichte sich so reizvoll zusammensetzt.
Das Leben der Menschen verändert sich immer schneller, das ist wohl war. Aber genügt eine zunehmende Entfremdung von der Alltagskultur, um zu erklären, warum für Middle-Ager die Zeit schneller vergeht? Ich denke, nein. Zunächst sieht es nämlich gar nicht so aus, als würde diese Wahrnehmung im Zuge der immer schnelleren kulturellen Veränderungen ausgeprägter auftreten – die alten Griechen kannten sie im gleichen Maß wie wir, wobei ein Grieche, der solche Gedanken auf seine Papyrusrolle kritzelte, einen beschleunigten »intellektuellen Fortschritt« wohl stärker spürte als der Rest seiner Landsleute. Da aber meine Studenten – die genau das richtige Alter haben, um mit den raschen EntwicklungenSchritt halten zu können – das Schnellerwerden der Zeit genauso wahrnehmen, zeigt mir, dass es nicht an der Kultur liegen kann. Ein kultureller Wandel kann für Middle-Ager das Gefühl einer Beschleunigung vielleicht verstärken, aber als eigentlicher Grund kommt er nicht in Frage.
Theorie Nr. 2: Wir denken zuviel darüber nach, wie viel Zeit schon vergangen ist
Mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert haben Denker versucht, das Maß der Zeit-Beschleunigung beim Älterwerden zu bestimmen.
Nach einer dieser Theorien steht für jeden Einzelnen von uns die Geschwindigkeit, mit der die Zeit verstreicht, in proportionalem Verhältnis zu den Jahren, die seit Einsetzen unseres Langzeitgedächtnisses vergangen sind – was normalerweise im Alter von
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