Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
kann man sie fragen, wie viele Sekunden oder Minuten ein einzelner Zeitabschnitt gedauert hat. Entscheidend bei derlei Versuchen ist, dass die Testpersonen erst erfahren, was man von ihnen wissen will, wenn sie die betreffenden Zeiteinheiten bereits durchlebt haben – man lässt sie zunächst im Dunkeln und bittet sie erst im Nachhinein um eine Schätzung der Dauer. Obwohl das Alter der Testpersonen hier nicht so wichtig ist wie die Frage, ob Intervalle als aufregend oder langweilig empfunden werden, hat es den Anschein, als würden Middle-Ager mehr zur Überschätzung der Dauer neigen als junge Erwachsene. Das ist faszinierend, denn hier haben wir ein erstes greifbares Anzeichen dafür, dass mittel-alterliche Hirnuhren anders ticken als junge. Wobei dieses Ergebnis natürlich nicht so recht zu unserem Die-Zeit-vergeht-schneller-je-älter-wir-werden-Phänomen passen will, denn dann müssten Middle-Ager die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit schneller an sich vorüberziehen sehen.
Man kann eine Zeitwahrnehmung auch untersuchen, indem man Leute auffordert, ein Zeitintervall zu reproduzieren – durch Klopfen mit dem Finger zu wiederholen –, nachdem es ihnen vorgeführt wurde. Männer klopfen dabei tendenziell kürzer als Frauen, wobei völlig unklar ist, warum gerade hier so große Eile herrscht. Andererseits wird gern zu lange geklopft, wenn Versuchspersonen älter sind, was wiederum die großartigsten Schlüsse zulässt. Kann es sein, dass beim Älterwerden unsere Kurzzeitmessung schlechter wird? Insgesamt scheint unsere Fähigkeit derZeitabschätzung abzunehmen, möglicherweise sogar schon vor dem Middle-Age. Und das Ausmaß dieser individuell verschiedenen Abnahme scheint mit Volumenänderungen einiger präfrontaler Hirnregionen zusammenzuhängen.
Eine dritte Möglichkeit, das Zeitgefühl zu untersuchen, besteht darin, Testpersonen Intervalle »produzieren« zu lassen – man nimmt ihnen die Uhr ab und lässt sie dann Abschnitte mit einer gewissen Anzahl von Sekunden abzählen. Dabei kommt Erstaunliches heraus: Bei einer der Untersuchungen sollten Teilnehmer Abschnitte zwischen zehn und dreihundert Sekunden erzeugen, und – hast du nicht gesehen? – wurde mit zunehmendem Alter immer schneller gezählt. Im Durchschnitt lösen Zwanzigjährige die Aufgabe ziemlich korrekt, bei Middle-Agern lässt das schon nach, und wenn die Leute sechzig sind, knapsen sie rund dreißig Prozent der tatsächlich verstreichenden Zeit ab. Dies ist ein faszinierendes Ergebnis, aber trotzdem will es nicht recht zu unserer Ausgangsfrage passen – denn wenn bei Middle-Agern die innere Uhr schneller tickt, sollte dann nicht der Eindruck entstehen, die Zeit vergehe langsamer?
Noch komplizierter wird es, wenn man verschiedene Zeitspannen misst. Bei einer Untersuchung von produzierten Intervallen, die zwischen einer und zwanzig Sekunden lang waren, konnte bei Middle-Agern keine Geschwindigkeitserhöhung festgestellt werden. Das führte zu der Vermutung, dass die Messung von Intervallen, die kürzer als zehn Sekunden sind, vielleicht durch andere Prozesse gesteuert wird als die von Intervallen, die länger als zehn Sekunden dauern. Und man hat tatsächlich herausgefunden, dass die Einschätzung unterschiedlich langer Zeiträume ganz unterschiedliche Regionen des Gehirns beanspruchen kann. Es gibt also verschiedene Uhren für Zeiträume der genannten Länge – aber wie kann dieses Ergebnis erklären, dass für Middle-Ager die Monate und Jahre schneller vorüberziehen?
Wie ich vorhin schon einräumen musste, haben wir keinen blassen Schimmer, warum die Zeit im Middle-Age schneller vergeht als vorher. Das ändert natürlich nichts daran, dass dieses Phänomen eine faszinierende, wiewohl unausgesprochene Begleiterscheinung fast der Hälfte unseres Lebens ist. Denn es ist doch so, dass unser Leben in einem unaufhaltsam vorwärts strömenden und dabei immer schneller werdenden Zeitstrudel vergeht.
Wie wir gesehen haben, scheinen wir für unterschiedliche Zeitmessungen unterschiedliche Messmethoden zu haben – diverse Uhren für Zeiträume, die kürzer als ein Tag, gleich lang wie ein Tag oder länger als ein Tag sein können. Eine Uhr für die Zeit, die tatsächlich verstreicht, eine andere für die Zeit, an die man sich rückblickend erinnert. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Menschen im mittleren Alter widersprüchliche Angaben machen – die Tage wollen nicht enden, obschon die Jahre vorbeirasen, und
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