Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
auf einmal ist alles schon furchtbar lange her.
Eines ist allerdings klar. Die vierundzwanzigstündig-suprachiasmatische Uhr ist die einzige, die bei Middle-Agern funktioniert. Woraus ich eine wichtige Folgerung ziehe: Middle-Ager sind schlecht in der Kurzzeit- und vielleicht auch in der Langzeitmessung, weil diese Fähigkeit für sie über die Evolution hinweg nicht von Bedeutung war. Die Natur ist voll mit Organismen, die unglaublich präzise Aussagen zu Tageslänge, Mondzyklen, Gezeiten, Jahren und selbst Primzahlprodukten von Jahren ermöglichen – und trotzdem finden Middle-Ager keinen Maßstab für die eigene Zeitwahrnehmung? Vermutlich hing bei den unzähligen Jäger-und-Sammler-Generationen vor uns die Entscheidung, wann man der Antilope den Speer zwischen die Rippen jagt oder wann man einer potenziellen Partnerin schöne Augen macht, nicht vom Abzählen irgendwelcher Zeiteinheiten ab. Und aus diesem Grund hat die Natur den Middle-Ager mit dieser Fähigkeit auch nicht ausgestattet.
Dennoch bleibt die subjektiv empfundene Lebensbeschleunigung im Middle-Age ein erstaunlich regelmäßig auftretendes Phänomen, das nach wie vor einer Erklärung bedarf. Warum hat die natürliche Auslese Menschen bevorzugt, die sich ab der Lebensmitte fühlen, als würden die Jahre nur so an ihnen vorbeiflitzen? Welcher Vorteil könnte mit diesem beunruhigenden Gefühl verbunden sein?
Als Antwort auf diese Fragen möchte ich eine Spekulation anstellen. Wenn Menschen Kinder oder Teenager sind, steht die Zeit, die ihnen zur Verfügung steht, voll und ganz im Zeichen von Entwicklung und Überlebenskampf. Bis vor etwa 10 000 Jahren mussten nach dieser Lebensphase schon die ersten Kinder durchgebracht werden, und die Tyrannei ihrer Aufzucht löste die des eigenen Heranwachsens ab. Mit dem Middle-Age ist das Leben aber immer weniger von Notwendigkeiten wie Nahrungsbereitstellung oder Liebeszuwendung dominiert, und die Zeit gehört ganz überraschend wieder den mittel-alterlichen Eltern. Jetzt haben sie neue Überlegungen anzustellen, wie sie sowohl ihr eigenes Wohlergehen, als auch das ihrer Nachkommen und Stammesgenossen steigern können. Und was sie dabei antreibt, ist ein neu gewonnenes Bewusstsein, dass das Leben irgendwann zuende geht und sie dann ihren Beitrag zur Gemeinschaft nicht mehr leisten können. Ich vermute also, dass die Zeit auf einmal schneller vergeht, damit diesen Überlegungen Nachdruck verliehen wird – auf dass wir ganz bewusst einen Schritt zurücktreten und über unser zukünftiges Leben nachdenken. Und dann wieder vortreten und uns kopfüber in die vielen produktiven Jahre stürzen, die noch vor uns liegen.
Vielleicht denken Sie jetzt, dass sich ein derart frappierendes und gleichzeitig ausgeklügeltes Phänomen, wie es die im Middle-Age stattfindende Betrachtung von Verlauf und Sinn des eigenen Lebens darstellt, überhaupt nicht evolutionär herausgebildet habenkann – dass die brutale Hand der natürlichen Selektion bei diesem feinen Gebilde gar nicht tätig sein konnte. In den folgenden Kapiteln möchte ich aber zeigen, dass genau das der Fall war.
9. Ist das Gehirn »vollständig«, wenn man vierzig ist?
Bis vor kurzem waren die meisten Psychologen der Meinung, im mittel-alterlichen Gehirn würde nichts wirklich Nennenswertes passieren. Denn nach Freud ist die entscheidende Phase für unsere seelische Entwicklung die frühe Kindheit – was für das Middle-Age bedeutet, dass hier wohl Stillstand herrscht. Es galt als Widerspruch in sich, von so etwas wie »Entwicklung im Erwachsenenalter« zu reden, und Psychologen wurden nicht müde zu betonen, dass sich die Persönlichkeit des Menschen im Middle-Age kein bisschen verändert. Wenn man erstmal erwachsen ist, so hieß es, ist man fertig, »vollständig«, aus die Maus.
Daneben exisitierte der Verdacht, dass im Middle-Age vermehrt Dinge wie Stress, Trauer und Seelenkrankheiten auftreten. Davor haben viele Angst, die sich dem Middle-Age nähern. Jetzt könnte man meinen, diese Leidenslawine bricht über uns herein, weil unser statisches, wandlungsresistentes Gehirn mit den vielen Anforderungen dieser neuen Lebensphase nicht klarkommt. Wenn wir uns zwei simple Dinge in Erinnerung rufen – dass das Gehirn der zentrale Bestandteil des Menschen ist und dass Middle-Ager das Produkt einer langen natürlichen Selektion sind –, stehen wir plötzlich vor der unangenehmen Frage: Aus welchem Grund sollte die Evolution den Middle-Ager mit
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