Wir müssen leider draußen bleiben
Sloterdijk, der 2009 in seiner höchst elitären Kampfschrift »die Revolution der gebenden Hand« ( FAZ ) forderte, ließ sich gar zu der Behauptung hinreißen, bürokratischer Geldtransfer sei »kalte Hilfe«, die den Menschen Stolz und Würde nehme. Die freiwillige und barmherzige Gabe des Wohlhabenden gebe den Empfangenden jedoch deren Würde zurück. 132
In der Wochenzeitung Die Zeit warb auch Ulrich Greiner dafür, Ungleichheit als gesellschaftliche Tatsache zu akzeptieren. In seinem Essay mit dem bemerkenswerten Titel »Die Würde der Armut. Warum wir nicht mehr von Gleichheit reden sollten« schreibt er: »Man muss sich darüber im Klaren sein, dass seine [des Staates] Fürsorge, deren Ausmaß, historisch gesehen, einzigartig ist, Armut und Deprivation zwar gemildert, aber niemals beseitigt hat.« 133 Weswegen selbstverständlich der Sozialstaat »an seine Grenzen gerät«. Neoliberale Apoka lyptiker wie Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt, Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, Ex- BDI -Präsident Hans Olaf Henkel, der rechtskonservative Historiker Arnulf Baring oder SPD -Rechtspopulist Thilo Sarrazin haben diese Legende in den ver gangenen zehn Jahren so oft wiederholt, dass »der Sozialstaat« mittlerweile als das eigentliche Problem gilt und nur dessen Abschaffung als Lösung. Neu allerdings ist, dass die Zerstörung des Sozialstaats nun sogar noch moralisch verbrämt wird: Er bedrohe Barmherzigkeit und Humanität. »Die Verrechnungslogik des Sozialstaats, die keine konkreten Menschen kennt, sondern nur abstrakte Geber und Nehmer, beschädigt den ursprünglich humanitären Impuls. An seine Stelle tritt der Rechtsanspruch des Staatsbürgers«, schreibt Greiner und preist die neue »Würde der Armut« als kollektive Grundlage dafür, künftig Almosen ohne schlechtes Gewissen empfangen zu können.
Letzter Ausweg Suppenküche
Carola Wagner ***** , 42, und Saskia Fischer*, 36, jedenfalls können nichts Würdevolles daran finden, jeden Mittwoch selbst bei Schnee und Regen an der Ausgabestelle der Tafel in ihrem Münchner Stadtteil zu stehen. Die beiden Frauen haben ihre Einkaufstaschen in einiger Entfernung, immer aber in Sichtweite abgestellt. Sie plaudern, als hätten sie sich zufällig auf der Straße getroffen. Tische und Lieferwagen werden hier auf dem Gehweg aufgebaut, die Nutzer sind den neugierigen Blicken der Menschen im Viertel ausgeliefert.
Und auch dem der Medien: Diese Ausgabestelle ist so eine Art Showroom der Münchner Tafel, Fernsehteams sind oft zu Gast, nicht selten zum Missfallen der Nutzer – sie haben Angst, erkannt zu werden. Doch hier auf dem Gehweg ist die Tafel eine öffentliche Veranstaltung, die Fernsehteams brauchen die Nutzer nicht um Erlaubnis zu fragen. So dienen sie abermals als Statisten, wenn es in menschelnden Fernsehbeiträgen wieder darum geht, das Ehrenamt zu loben.
Nicht alle Fernsehteams haben die besten Absichten: Laut dem Sprecher des Tafelbundesverbands würden in der Berliner Zentrale immer wieder Privatsender anrufen, die bei den Tafeln Protagonisten für ihre menschenverachtenden Reality-Formate suchen, in denen Bedürftige als verwahrloste und lebensunfähige Lachfiguren dargestellt werden. Selbstverständ lich würde man niemanden vermitteln, sagt der Tafelbundesverband. Dass die Menschenfänger dann eben etwas entfernt um die Ecke Tafelkunden abpassen und sie mit Geld in ihre Schmuddelsendungen locken, das sei nicht zu verhindern.
Auch Carola Wagner und Saskia Fischer sagen, dass sie es nicht gern sehen, wenn Fernsehteams kommen. Sie haben große Angst, hier entdeckt zu werden. »Wir haben uns schon überlegt, ob wir Kopftücher aufsetzen sollen«, sagt Fischer, der man die Armut nicht ansähe, stünde sie nicht hier. Die Ausgabestelle ist in der Nähe der Schule ihres Sohnes gelegen. »Wenn die Mitschüler oder deren Eltern das mitbekommen, dann wird mein Kind in der Schule gemobbt.« Wie bei Elisabeth Müller weiß auch in ihrer Familie niemand, wie schlecht es wirklich um sie steht. Ähnlich Saskia Fischer: »Mein Bruder verachtet Menschen, die hier stehen, als Schmarotzer.« Immer wieder schaut sie sich nervös um.
»Fünf Anläufe hat es gebraucht, bis ich mich wirklich getraut habe, hierherzukommen. Ich bin immer wieder umgekehrt, als ich die Schlange gesehen habe. Bis es nicht mehr ging«, sagt Fischer. Die 36-Jährige hat zwei Kinder; krankheitsbedingt musste ihr Mann seinen Job aufgeben und ist nun arbeitslos. Sie selbst ist ausgebildete Bürokauffrau,
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