Wir nennen es Politik
können wir damit zu uns ins Boot holen. Wir arbeiten gerade an einem Konzept für die Registrierung.« »Bei uns haben wir es an die Mitgliederdatenbank gekoppelt«, erzähle ich. Wir reden über verschiedene Konzepte der Verifizierung eines echten Menschen, über Datenschutz und über die Möglichkeit verbindlicher Abstimmungen. Ich stelle alte und neue Konzepte vor, die die deutschen Piraten zurzeit ausprobieren. Die Israelis erklären die lokalen und gesetzlichen Umstände. Wir gleichen Ideen ab, wir streiten. Ich beginne zu begreifen, dass dieser Prozess an vielen Orten der Welt passiert. Gerade jetzt sitzen irgendwo junge Menschen zusammen und zerbrechen sich die Köpfe, debattieren über Möglichkeiten, demokratische Netze zu bauen. Und dadurch, dass es so viele sind und dass dieser Prozess so dezentral ist, kommen wir mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit voran. Alles, was ich hier schreibe, kann also nur eine Momentaufnahme sein. LiquidFeedback ist eine politische Online-Plattform. Und LiquidFeedback funktioniert nach den Prinzipien der Liquid Democracy.
Ich habe bereits über die Grundideen von Liquid Democracy gesprochen: Vertrauen, Kontrollierbarkeit und flexible Delegation von Arbeit und Einfluss. Eine ganz analoge Umsetzung könnte man sich folgendermaßen vorstellen: Wir organisieren eine Podiumsdiskussion mit rund 2000 Zuschauern, aber wir legen kein Thema fest und laden auch keine Referenten ein. Das Publikum entscheidet demokratisch, wer reden darf (und damit auch,über was gesprochen wird): Als Anwesende bekomme ich eine Art Golfball mit einer eindeutigen Nummer darauf (so wie beim Lotto). Diesen kann ich jederzeit an jemand anderen weitergeben oder wieder zurückverlangen. Auf dem Podium sitzen dann jeweils die fünf Leute, die gerade die meisten Bälle haben. Wenn ich selbst viele davon habe, muss ich natürlich nicht selbst reden. Ich kann meine ganze Bällesammlung an jemanden weitergeben (und jederzeit wieder zurückverlangen). Je größer meine Sammlung ist, desto mehr Einfluss habe ich auf den Verlauf der Diskussion. Wenn ich Glück habe, kann ich sogar mal eben dafür sorgen, dass eine bestimmte Person auf das Podium kommt oder dieses verlassen muss. Wenn die Redebeiträge von mir – oder denjenigen, die ich auf das Podium gebracht habe – niemand hören will, werde ich diesen Luxus wieder verlieren. Das kann sogar sehr schnell gehen. Wenn mir zum Beispiel jemand ein Paket mit 200 Bällen gegeben hat, kann er diese jederzeit zurückverlangen, dann ist mein Einfluss mit sofortiger Wirkung futsch. Was für mich gilt, gilt natürlich genauso für alle anderen. Die Veranstaltung ist schließlich plattformneutral. Von außen betrachtet geht es in dem Raum zu wie in einem Ameisenhaufen oder auf dem Basar – ein Gewusel von Leuten, die Bälle durch die Gegend tragen, austauschen, in Päckchen packen und diese gegeneinander abwiegen. Wir brauchen sehr große Lautsprecher, damit es überhaupt möglich ist, der Diskussion zu folgen. Vielleicht nehmen wir aber auch gar keine realen Bälle, sondern virtuelle, die man per Mausklick hin und her schieben kann. Vielleicht treffen wir uns auch gar nicht an einem realen Ort, sondernvirtuell, irgendwo im Internet. Egal wie wir es im Detail umsetzen, bei Liquid Democracy geht es um die demokratische Verteilung von Einfluss, also Macht. Das Neue ist, dass die Macht nicht hierarchisch verteilt wird, sondern durch ein sehr flexibles Netzwerk von Stimmgewichtsdelegationen.
Wer Spaß an Gedankenspielen hat, kann sich einen ganzen Staat vorstellen, der online per Liquid Democracy regiert wird. Dort kann sich jeder Bürger auf einer speziellen Website einloggen und selbst Vorschläge einbringen, die Vorschläge von anderen lesen und bewerten, über Anträge abstimmen oder seine Stimme an andere Personen delegieren. Anstelle eines Parlaments gäbe es in diesem Land ein System, bei dem auf der einen Seite Ideen reingegeben werden und auf der anderen Seite demokratisch legitimierte Gesetze rauskommen. Das Filtern und Bewerten würden keine Spitzenpolitiker übernehmen, sondern das soziale Netzwerk der Bürger. Das klingt interessant, ich kenne allerdings niemanden, der so etwas tatsächlich ernsthaft fordert. Das Konzept Liquid Democracy ist einfach zu neu und es gibt noch zu viele offene Fragen, als dass man die durchaus bewährte parlamentarische Demokratie einfach unbedacht über den Haufen werfen würde. Wie lange gelten die einmal getroffenen Entscheidungen?
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