Wir nennen es Politik
ein ständiges Aufwerfen und Beantworten von Fragen. Im Idealfall sind alle Menschen irgendwie beteiligt. Aber wo findet er eigentlich statt? Überall. Zum Beispiel in Talkshows, beim Mittagessen, in Tageszeitungen, auf Parteitagen und bei Stammtischen. Unser Blick auf den politischen Diskurs unterscheidet sich – je nach politischer Einstellung – sehr stark. Darum gibt es beispielsweise Zeitungen, die als eher links, liberal, konservativ oder rechts bezeichnet werden. Klassische Medien können jeweils nur einen Kanal bedienen und an alle Menschen das Gleiche senden. Sie können insbesondere nicht empfangen, zumindest nur extrem eingeschränkt. Um als Bürger am politischen Diskurs teilzunehmen, hat die Architektur der Bundesrepublik Deutschland eine andere Struktur vorgesehen – die Parteien. Eine Partei ist Repräsentant und Kristallisationspunkt einer politischen Grundströmung. Doch ihre Funktion geht viel weiter, als Verfechter dieser Grundströmung in einem Parlament zu vertreten. Parteien sind im Allgemeinen hierarchisch strukturiert. Entlang ihrer Hierarchie ermöglichen sie Kommunikation vom einfachen Bürger bis in die Parlamente und zurück.
Sehen wir uns dazu doch an, wie eine landesweit agierende Partei gegliedert ist. Sie hat im Allgemeinen eine Bundesebene, Landesverbände, Kreisverbände, Ortsverbände und lokale Stammtische. Die »Benutzung« einer Partei kann folgendermaßen aussehen: Ich gehe in meinem Ortsverband an den Stammtisch und sage, dass ich finde, dass der Euro doof ist. Die anderen stimmen mir eifrig zu. Wir denken, dass unsere Partei sich gegen die Rettung des Euro einsetzen müsse. Der Vorstand unseres Ortsverbandes trifft sich im Kreisverband und trägt das weiter. Dann wird es bis auf die Landesebene getragen, von wo unser Kreisverband eine Broschüre mit Information zur Eurorettung bekommt. Der Landesverband trägt gleichzeitig die Unzufriedenheit hinauf in den Bundesverband. Da laufen alle Landesverbände zusammen und die Parteispitze hat eine Ahnung, was die Menschen so sagen. Sie kann auch wieder hinunterkommunizieren. So läuft die Kommunikation hin und her. Im Prinzip ist eine Partei ein recht unflexibles soziales Netzwerk mit langen Kommunikationswegen. Aber abgesehen davon, ob die Bundesebene überhaupt mitbekommt, was ich irgendwo am Stammtisch sage, gibt es noch ein anderes Problem: Ich muss mich (zunächst) auf der untersten Ebene einbringen. Und das könnte dann auch so aussehen: Ich komme zum Treffen meiner Partei in einer beliebigen Kneipe. Es ist recht voll da, es riecht nach Bier und am Stammtisch sitzen Männer mittleren Alters, die mit hochroten Köpfen über irgendwas lachen. Ich komme da als junge Frau hin und soll mich dazusetzen und politisch mitarbeiten. Im besten Fall befasst sich die Gruppe gerade mit Verkehrsregelungoder was sonst so ansteht in unserem Ort. Ich habe kein Auto und interessiere mich nicht besonders für Verkehrsregelung. Da ich erst seit zwei Jahren in dem Ort wohne, fühle ich mich nicht besonders eingebunden. Ich würde mich lieber mit Bildungspolitik beschäftigen, aber das ist ein Landesthema, für das sich hier niemand interessiert. Ich gehe nach Hause und komme nicht wieder. An dieser Stelle endet mein politisches Engagement. Schade. Eine große Organisation mit vielen tausend aktiven Mitgliedern benötigt eben Hierarchien, um alle einzubinden und trotzdem nicht im Chaos zu versinken. Oder nicht?
Exkurs: LiquidFeedback
Jerusalem, Israel. In einer Seitenstraße befindet sich eine verrauchte kleine Kneipe, in der Jazz-Musik gespielt wird. Sie gehört Dan, der jahrzehntelang Direktor eines wichtigen israelischen Politmagazins im Fernsehen war. Heute gehört ihm einfach nur die Bar, wo er sich zu Gästen an den Tisch setzt. An unserem Tisch sitzen Mitglieder der neu gegründeten Piratenpartei Israel. Im Halbdunkel kreisen zwischen uns Gläser, Zigaretten und diverse Sprachen. Es sind schwierige Zeiten für die junge Partei, weil in zwei Monaten Wahlen anstehen, zu denen sie bereits antreten müssen. Das heißt konkret, dass viel praktische Arbeit ins Haus steht. Keith hat seinen Laptop aufgeklappt und zeigt mir etwas, das ich von zuhause kenne. LiquidFeedback. »Im Prinzip haben wir das Tool bisher bloß ins Hebräische übersetzt«, erzählt Noam. »Aber wir wollen es noch mehran unsere Bedürfnisse anpassen. Es lässt sich gut in der Kommunalpolitik einsetzen. Es gibt hier viele, die nicht wahlberechtigt sind, in Ost-Jerusalem. Die
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