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Wir neuen Großvaeter

Wir neuen Großvaeter

Titel: Wir neuen Großvaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Holbe
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lieben sie innig. Die schönsten Geschenke, die wir ihnen machen können, sind Geduld und Zeit. Auch eine Geschichte habe ich für sie geschrieben, in der sie alle namentlich vorkommen. Das hat sie sehr gefreut.
    Ingrid Noll, Schriftstellerin

Nicht für die Schule lernen wir ...
    Warum kann nichts so bleiben, wie es ist? Warum verändert sich alles und jedes?
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    Eine alte Fotografie bringt mich zurück in die Vergangenheit: Je länger ich mir das vergilbte Bild anschaue, desto rascher verliert die Gegenwart an Gestalt. Jenseits der Zeit, zwischen den weißen Blütendolden der Heckenrosen, steht noch immer das Backsteinhaus mit den hohen, abweisenden Fenstern. Auf dem Dach sitzen drei neugierige Raben. Das Tor zum Hof ist weit offen. Langsam gehe ich ihn wieder, den Weg zu meiner Schule, und wie Schatten folgen mir meine Gefährten von damals.
    Mein erster Lehrer war Herr Herbst, ein freundlicher Mensch mit Glatze und Brille. Ich trat ihm mit einer aus Pappe zusammengeklebten Schultüte entgegen, in der Äpfel und Birnen steckten, die meine Mutter auf den Streuobstwiesen aufgelesen hatte. In dem altmärkischen Dorf wohnten Großbauern, die mit ihren Pferdekutschen auf der Kopfsteinpflaster-Allee mächtig Furore machten. Allein daran ist unschwer zu erkennen, wie lange das alles schon her ist.
    Wir sind zu neunt, fünf Buben und vier Mädchen. Alle tragen wir Kniestrümpfe, die Haare sind frisch gekämmt, und der Ranzen drückt unsere Schultern gewaltig nach hinten. Ich erinnere mich an die Schiefertafel an der Wand und an eine Fibel auf meinem Pult, in der mit großen und kleinen Buchstaben
der Alltag beschrieben steht: Mutter kocht das Essen, Vater geht zur Arbeit. So einfach schien damals das Leben.
    Ich weiß nicht mehr, wer damals das Foto gemacht hat, aber an Herrn Herbst erinnere ich mich deutlich, so wie sich jeder an den Namen seines ersten Lehrers oder der ersten Lehrerin erinnert. Herr Herbst war auch der Rektor der kleinen Schule. Da er hauptberuflich fünf Bienenvölker betreute, gab er uns oft frei, und wir tobten uns aus in den gelben Feldern und auf den blauen Hügeln der Umgebung.
    Daran muss ich denken, während ich neben meinem Enkel Leo in der Kirche sitze, in der sich die Schulanfänger zum ersten Mal versammelt haben. Die großen Ferien des Lebens sind zu Ende.
    Aus den kleinen Prinzen und Prinzessinnen, behütet allein von den Eltern, werden ernsthafte Schüler, die sich von nun an einer fremden Ordnung fügen müssen.
    Emil, Finn, Deborah, Paul und all die anderen wagen den ersten Schritt in die Selbstständigkeit. Ihr Erlebnisbereich wird sich bald von dem ihrer Eltern und Geschwister zu unterscheiden beginnen. Die Erkenntnis kann schmerzlich sein, aber auch Großväter müssen erkennen, dass selbst ein noch so behüteter und geliebter Mensch in der Tiefe seines Wesens allein ist. Denn was er fühlt und will, ist letztendlich nur in ihm.
    Irgendwann sind auch für die Schulanfänger die ersten Schritte zu farbigen Abzügen in den Fotobüchern geworden. Die Erstklässler rücken nun eine Stufe auf, die Großen gehen aufs Gymnasium.
    Wie wird der neue Lehrer sein? Wie die Schule, in die jetzt gewechselt werden muss? Wer noch einmal eine Runde drehen darf, sieht sich einer neuen Klassengemeinschaft gegenüber.
Ganz zu schweigen von den Schulabgängern, die bereits in einer fremden Stadt nach einem Zimmer suchen, um zu studieren und erwachsen zu werden. So ist unser Leben. Die Zeit vergeht und dreht das Rad des Lebens wie der Wind die Flügel der Mühle, die es damals noch in dem kleinen Dorf meiner Kindheit gegeben hat. Was ist aus meinen Freunden geworden, die mit mir an diesem sonnigen Herbsttag zum ersten Mal das hohe dunkle Klassenzimmer betraten, in dem es nach Bohnerwachs roch und der Ernst des Lebens auf uns lauerte? Keinen der Jungen und Mädchen in der einklassigen Volksschule des kleinen Dorfes in der Altmark habe ich je wiedergesehen.
    Warum kann nichts so bleiben, wie es ist? Warum verändert sich alles und jedes?
    Dafür gibt es noch ein paar stramme Kameraden, die mit mir die Mittlere Reife schafften. Außer Günter W., der am Oberrhein ein eigenes Familienunternehmen betreibt, sind sie alle pensioniert oder in Rente gegangen. Manche schwärmen von ihrem neuen Job als Großvater, doch für die meisten wohnen die Enkel zu weit weg, um sie regelmäßig zu

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