Wir schaffen es gemeinsam
ein Wort zu sagen. Fräulein Hermansen holte einen Wagen, und Fräulein Lind wurde gestützt, während sie die Treppe hinunterging. Die anderen Damen verschwanden leise und erschrocken.
Der Doktor blieb stehen, er ballte die Hände in den Taschen seines weißen Kittels. Er warf einen Blick auf den Tisch mit den Stühlen, die in aller Eile beiseite geschoben worden waren, auf die halbgeleerten Teetassen und auf die Apfelsinenschalen. Dann drehte er sich zu mir um. „Da ist etwas, das ich mir nur schwer verkneifen kann“, sagte er mit verhältnismäßig beherrschter Stimme. „Und das wäre, Sie übers Knie zu legen und gehörig durchzuhauen, so daß Ihnen Hören und Sehen verginge! Daß Sie sich nicht schämen! Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß Sie Geld verdienen, und Sie haben gute Einfälle. Wenn Sie aber die Gesundheit der Menschen untergraben, dann geht das wirklich zu weit. Ich habe Sie bisher bewundert und Hochachtung vor Ihnen gehabt, aber jetzt haben Sie mich enttäuscht, das kann ich Ihnen schriftlich geben. So etwas hätte ich nie von Ihnen gedacht!“
„Ja aber, Herr Doktor…“
„Ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Es geht mich den Dreck an. Das stimmt natürlich. Entschuldigen Sie!“
Sprach’s und knallte die Tür hinter sich zu. „Ich habe Sie bewundert und Hochachtung vor Ihnen gehabt“, hatte er gesagt.
Ich stand da, „eine Beute widerstreitender Gefühle“, wie es in Romanen immer heißt. Ich schämte mich, aber im Grunde meines Herzens fühlte ich eine wilde kleine Freude darüber, daß er mich bewundert und Hochachtung vor mir gehabt hatte.
Ich wollte seine Bewunderung und Hochachtung zurückgewinnen!
Da mußte ich lächeln. Mir fuhr es durch den Sinn, daß er jedenfalls heute Mensch gewesen war. Kein bißchen Arzt – sondern nur ein hundertprozentiger, richtig zorniger Mensch.
Die fünf Tage bis zum Ende der Kur zu überstehen war für alle Teile peinlich und schlimm. Frau Lind mit Tochter war verschwunden. Das Geld schickte sie mit der Post. Einige andere blieben auch weg. Am achtzehnten Tag der Kur verabschiedeten sich alsdann neunzehn Damen mit einem matten und beherrschten Dankeschön.
Da hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Ich sagte den acht Damen, die auf der Warteliste standen, ab.
Ich hatte vier Paar Strümpfe von Dr. Steneng liegen. Sie mußten abgeliefert werden. Könnte ich es nur vermeiden, ihm zu begegnen. Da fiel mir ein: Zwischen neun und zehn Uhr war wohl sein Hausgeist da. Da konnte ich sie bei ihr abgeben.
Ich wollte die Strümpfe abgeben, wenn er nicht zu Hause war. Aber – entgegen meinen feinen Berechnungen – machte mir Doktor Steneng selber auf.
„Guten Tag! Ich… ich wollte nur eben die Strümpfe bringen. Bitte.“ Ganz rasch gab ich ihm das Paket und wollte wieder wegstürzen.
„Nein, warten Sie doch mal eben, Fräulein Grundt. Haben Sie Zeit, einen Augenblick hereinzukommen? Ich habe, glaube ich, noch mehr Strümpfe für Sie, und dann sollte ich dieses Paket von Herrn Golding abgeben. Ich sollte Sie bitten, die Sportstrümpfe so bald wie möglich fertigzumachen.“
Ich war inzwischen ins Wohnzimmer gekommen.
„Danke“, sagte ich und nahm das Paket in Empfang. „Ich werde sie heute vormittag gleich fertigmachen.“
„Soso. Haben Sie denn Zeit, vormittags zu stopfen?“
„Ja. Ich habe jetzt nichts mehr zu tun. Ich habe mit den Schlankheitsdamen aufgehört.“
„Soso. Ist das meine Schuld?“ Ich fühlte, daß ich rot wurde.
„Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich sehe ein, daß Sie recht hatten. Aber ich möchte gern, daß Sie verstehen sollen, es war nicht Gewissenlosigkeit von mir, sondern nur Unüberlegtheit. Und dann war es ja eine ausgezeichnete Art und Weise, Geld zu verdienen.“
„Ich verstehe.“ Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: „Sie müssen entschuldigen, daß ich neulich so heftig wurde. Es kommt nicht oft vor, daß der Zorn mit mir durchgeht. Bitte, vergessen Sie es.“
Da lachte ich.
„Nein, ich habe gar nicht die Absicht, es zu vergessen. Es war für mich nämlich außerordentlich gesund.“
„Sie sind im Grunde ein eigenartiges Menschenkind“, lächelte Steneng. „Man denke, eine Frau, die zugibt, daß ihr eine Abreibung gutgetan habe! Nicht zu glauben! Wollen Sie eine Zigarette?“ Ich wollte.
„Was machen Sie nun jetzt, abgesehen vom Strümpfestopfen?“
„Lerne abends mit Fräulein Brünier Französisch und pflege die Katze.“
„Die Katze… ach ja, das ist die Kleine, der
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