Wir sehen uns in Paris
ganze Zeit über gefahren?«, fragt Hannah verschlafen.
»Fast«, sagt Astrid. »Einmal bin ich abgefahren, habe einen Kaffee getrunken und für kurze Zeit die Augen geschlossen. Aber ich bin so voller Unruhe. Ich musste weiter.«
»Das habe ich nicht mitbekommen«, murmelt Hannah. »Wie weit ist es jetzt noch?«
»Wenn alles so läuft wie bisher, sind wir gegen 18 Uhr in Saarbrücken«, antwortet Astrid. Sie stöhnt auf. »Hoffentlich sind die beiden dann noch da.«
»Und dann?«, fragt Hannah ratlos. »Wo wollen wir anfangen?«
»Wir fahren erst einmal zum Hauptbahnhof. Ich denke, wir sollten die Hilfe von Herrn Hoffnung annehmen. Danach sehen wir weiter.«
Der Verkehr wird nun doch dichter. Hannah dreht sich um. Durch die Glasscheibe, die den Fahrerraum vom hinteren Teil des Wagens trennt, sieht sie die geblümte Bettwäsche, die Oma Morgenstern über die Matratze gebreitet hat. Ein seltsames Bild, schließlich werden im Kofferraum normalerweise Särge transportiert. Nur die gefächerten violetten Gardinen an den Scheiben erinnern daran, dass sie in einem Leichenwagen fahren. Hannah kramt ihr Notizbuch aus der Tasche. So ernst der Anlass auch ist, aber geblümte Bettwäsche in einem Leichenwagen, das muss sie einfach notieren.
Als Astrid Hannah schreiben sieht, sagt sie: »Isabella kritzelt auch ständig in ein Notizbuch. Was schreibt ihr da eigentlich?«
Hannah schaut hoch. »Wir schreiben eben beide gern«, sagt sie. Bloß nichts von unseren Plänen verraten, denkt sie. Das ist und bleibt unser Geheimnis, bis zu unserem ersten Film. »Wenn ich nicht mit Isabella zusammen bin, schreibe ich auf, was ich in der Zwischenzeit erlebe, und sie macht das genauso. So vergessen wir nichts…«
»Ihr seid tolle Freundinnen«, sagt Astrid und seufzt gerührt. »Ich glaube, wenn Isabella dich nicht hätte …« Sie spricht den Gedanken nicht zu Ende aus. Aber dann fährt sie doch fort. »Wenn Eltern auseinandergehen, ist das für Kinder immer ganz furchtbar. Erst recht, wenn Geschwister getrennt werden. Und dann auch noch diese Entfernung. Paris! Bei allen Entscheidungen, die wir im Leben so treffen, hoffen wir immer, es sind die richtigen. Vor allem die richtigen für Isabella und Clara. Aber so, wie es jetzt aussieht, war wohl so manches falsch, was wir gemacht haben. Ich hoffe sehr, dass ich das Isabella erklären kann und sie mir wieder vertraut.« Astrid macht eine kleine Pause und sucht nach den richtigen Worten. »Ich habe viel nachgedacht, auch über das, was du gestern gesagt hast.«
Hannah erinnert sich an ihren Wutausbruch vom letzten Abend und wird rot.
Leise fährt Astrid fort: »Wir waren so sehr mit uns beschäftigt, Peter und ich, und haben die Kinder wie Möbelstücke zwischen uns aufgeteilt. Es sollte alles glatt laufen, dabei haben wir nicht beachtet, wie sehr die beiden Mädchen aneinander hängen. Wir wollten jede Aufregung vermeiden … Na ja, der Plan ist nicht aufgegangen.«
Hannah weiß nicht, was sie sagen soll. Sie sieht vor lauter Verlegenheit aus dem Fenster.
»Na ja«, lenkt sie schließlich ein. »Wer konnte schon ahnen, dass das Ganze so aus dem Ruder laufen würde?« Hannah schaut Astrid an. »Wenn dieser John Isabella nicht die Karte geklaut hätte, wäre ja auch alles glatt gelaufen. Isabella säße schon längst mit Clara bei Croissants und Café au Lait auf den Champs-Élysées. Ich hoffe nur, dass ich diesen John irgendwann erwische. Der kann echt was erleben …«
Astrid legt Hannah beruhigend die Hand aufs Knie und sagt lachend: »Wenn du dem so die Meinung geigst wie uns gestern, dann hab ich fast Mitleid mit ihm. Aber jetzt lass uns erst einmal ankommen und Isabella finden.«
Hannah erwidert nichts. Nicht, weil sie nichts dazu zu sagen hätte, sondern weil genau in diesem Moment sonderbare Geräusche aus dem Motorraum zu ihnen dringen. Ein lauter Knall! Dann faucht und zischt es.
»O nein!«, ruft Astrid. Geistesgegenwärtig drückt sie den Schalter der Warnblinkanlage, lenkt den Wagen auf die Standspur und lässt ihn ausrollen. Er gibt mittlerweile keinen Mucks mehr von sich.
Astrid umklammert mit beiden Händen das Lenkrad und blickt starr geradeaus. Hannah drückt sich erschrocken in den Sitz. Draußen saust der Verkehr vorbei.
Es ist Hannah, die sich als Erste wieder fängt. Sie legt eine Hand auf Astrids Arm. »Wir brauchen Hilfe. Pannendienst«, sagt sie leise.
Astrids Hände lösen sich vom Lenkrad. »Du hast recht. Wir müssen auch das Warndreieck
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