Wir sehen uns in Paris
Ich glaube, dass Isabella unter unserer Trennung mehr gelitten hat, als wir alle ahnten. Und endlich kommt es raus. Aber wenn es nach mir ginge, hätte das auch etwas anders laufen können.«
»Stimmt«, gibt Hannah zu, »du hast recht. Isabella hat wirklich gelitten. Ich glaube, ich hätte sie auch nicht aufhalten können, wenn ich gewollt hätte. Mensch, Clara, Isa braucht dich.«
»Und ich brauche sie … Ich kann mir vorstellen, was sie durchgemacht hat.«
»Dir ist es wohl … genauso gegangen … so allein in Paris?«, fragt Hannah, stottert fast dabei, weil sie ahnt, dass sie genau ins Schwarze trifft.
Und da sprudelt Clara auch schon los: »Die erste Zeit hier war ganz schrecklich, Hannah. Ich konnte die Sprache nur schlecht, bekam Nachhilfe, wurde aber trotzdem wegen meiner doofen Aussprache schief angeguckt und ausgelacht. Ich ging mit lauter Fremden in eine fremde Schule. Ich bin zwar auf der Internationalen Schule, auf die viele Kinder aus anderen Ländern gehen, aber trotzdem war ich neu und fremd, wurde ausgegrenzt.«
Hannah versucht, sich das vorzustellen, und seufzt.
»Im Unterricht habe ich anfangs fast nichts verstanden«, erzählt Clara weiter, »ich kam mir richtig dumm vor. Papa kam abends immer spät von der Arbeit. Für ihn war ja das auch alles neu, obwohl er Paris schon kannte und besser Französisch sprach. Er hat dann sonntags Ausflüge mit mir gemacht in den Kern von Paris, Notre-Dame und Umgebung, wir sind auch gemeinsam durch unser Viertel gestapft. Aber ich wollte Freundinnen und nicht jeden Tag am Rand des Pausenhofes stehen. Ich war so einsam.«
»Isabella hat mir gar nicht erzählt, dass es dir soo schlecht ging. Wusste sie das nicht?«, fragt Hannah verwundert.
»Doch, schon. Wir reden über alles ganz offen. Vielleicht hat sie dir nichts erzählt, weil sie dich nicht traurig machen wollte … Warum fragst du?«, will Clara wissen.
»Ich hab nur gerade gedacht«, sagt Hannah, »kann es sein, dass Isa dich nicht nur aus lauter Sehnsucht unbedingt sehen wollte, sondern auch, um dir zu helfen?«
»Hm …« Einen Moment lang schweigt Clara betroffen. »Aber ich habe ihr doch gesagt, dass es jetzt viel besser ist, seit ich mit Lili befreundet bin. Mit ihr unternehme ich ganz viel nach der Schule … Allerdings hat Papa seit ein paar Wochen auch eine neue Freundin. Nichts dagegen, die ist okay, aber seitdem verbringt er meistens die Wochenenden mit ihr. Papa ist jetzt zwar immer gut drauf, aber auch fast immer weg. Am Morgen: Husch, weg. Am Abend: ›Ich muss noch kurz gehen …‹ Am Samstag: ›Hab leider eine Verabredung …‹ Am Sonntag: ›Ich habe dir frische Croissants geholt, aber ich muss …‹ Ich meine, sie nehmen mich auch oft mit. Aber da fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen. Na ja, aber das ist ja jetzt auch nicht so wichtig. Ich komme schon klar.«
Hannah unterbricht sie: »Bist du denn überhaupt nicht sauer? Darauf, dass die Erwachsenen die ganze Zeit nur an sich denken und dabei gar nicht merken, was mit dir los ist? Isabella geht es nämlich so, sie ist einfach wütend auf eure Eltern und hat die Nase voll, sich alles von ihnen vorschreiben zu lassen. Auch, wer wann und wo vom anderen getrennt wird.«
Clara lacht traurig auf. »Ja, so ist Isa. Ich bin da anders … Und Papa gibt sich ja Mühe. Aber du hast schon recht. Eigentlich wollte ich dir nur erklären, wie gut ich Isabella verstehe. Ich habe auch tausendmal an sie gedacht und sie herbeigesehnt, nicht nur, wenn ich allein war.« Und Clara fügt mit einem Seufzer hinzu: »Ich hoffe, es geht alles gut.
Wenn Isa jetzt doch einem Gangster in die Arme gelaufen ist … Du hast doch gesagt, er war nur etwas älter als ihr? Hoffentlich ist er doch ein harmloser Typ, der einfach mal was erleben wollte!«
Da ist Claras Handy plötzlich tot. Wahrscheinlich ist der Akku leer. Hannah schaut noch nach, ob sie eine SMS hat. Aber es kommt nichts an. Sie steckt ihr Handy in die Tasche.
Es scheint Hannah, als wären bereits Stunden vergangen, aber ein Blick auf die Uhr zeigt ihr: Astrids Anruf beim Pannendienst ist tatsächlich erst eine Dreiviertelstunde her. Und nun steht ein gelber Abschleppwagen vor dem Leichenwagen. Ein junger Automechaniker mit rotem T-Shirt und blauer Latzhose beugt sich über den Motor. Er prüft Kühlwasser und Ölstand, wischt sich die ölverschmierten Finger an einem Lappen ab. »Tut mir leid«, sagt er bedauernd. »Der Wagen muss in die Werkstatt. Ein wichtiges Teil muss
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