Wir sehen uns in Paris
aufstellen. Bleib du im Auto. Danach holen wir Hilfe vom ADAC.« Vorsichtig steigt sie aus.
Hannah bleibt zurück. Eine Weile sieht sie aus dem Fenster. Ein LKW zockelt dicht an der Standspur entlang. Auf der Plane steht: » Bis man Äpfel per E-Mail verschicken kann, müssen wir uns die Straße leider noch teilen .«
Hannah muss trotz aller Sorgen lachen. Dann beginnt sie, die Autos zu zählen. Das hilft, um sich zu beruhigen. Während sie zählt, wirbeln die Gedanken durch ihren Kopf. Sie hat das Gefühl, dass sie irgendetwas vergessen hat. Irgendetwas, das sie unbedingt jetzt tun sollte. Sie greift nach ihrem Notizbuch und schlägt es auf. Die Visitenkarte von Kurt Hoffnung kommt ihr entgegen. Sie nimmt sie in die Hand und betrachtet sie gedankenverloren. Soll sie ihn noch einmal anrufen?
»Warte«, bittet Isabella, doch John ist schon ein gutes Stück voraus. Im Laufschritt rennt sie hinter ihm her. »Nicht so schnell.«
Sie blickt nervös auf eine nahe Kirchturmuhr. Es ist gleich drei Uhr.
»Komm«, ruft John. Er nutzt jede Abkürzung durch Parks und kleine Sträßchen.
»Eigentlich weißt du doch gar nicht, ob deine Schwester jetzt zu Hause ist. Vielleicht ist sie ja bei einer Freundin«, stellt Isabella fest. Bei einer kurzen Verschnaufpause hält sie sich den Oberschenkel.
»Nein, ich weiß es nicht«, sagt John. »Ich versuche es einfach. Sonst komme ich morgen wieder, oder warte übermorgen vor der Schule auf sie. Von der Schule aus geht sie in die Mittagsbetreuung. Die endet für Marie um 15 Uhr. Da erwische ich sie spätestens.«
Immer weiter eilt John durch schmale Gassen, wechselt die Straßenseite, verschwindet um Häuserecken. Wenn Isabella ihn jetzt aus den Augen verlöre, würde sie den Weg zum Bahnhof nicht mehr finden. Daher beeilt sie sich. Wenn nur das dumme schmerzende Bein nicht wäre.
Endlich erreichen sie eine Wohnstraße mit freistehenden Einfamilienhäusern. Es sieht nett aus: die Rasen geschnitten, die Vorgärten gepflegt. Vor jeder Garage ein schmucker Kleinwagen.
Das sieht doch alles gar nicht so schlimm aus, überlegt Isabella. Aber war es vielleicht genau das, was John fortgetrieben hat? War der Rasen seinen Pflegeeltern wichtiger als John? Er hat versucht, ihr alles zu erklären. Doch Isabella kann sich nur schwer vorstellen, wie es ist, wirklich nicht gewollt zu sein. Das mit Papa ist noch anders. Sie weiß, dass er sie trotz allem noch lieb hat.
John setzt sich auf eine Mauer und schaut auf ein rot geklinkertes Haus direkt gegenüber. Isabella ist neben ihm.
»Ich glaub, sie sind zu Hause«, flüstert er, lässt sich von der Mauer gleiten und verschwindet über die Straße. Im Schatten der Autos und Bäume schleicht er sich näher an das Haus heran.
Isabella beobachtet, wie John in einen Baum klettert, der direkt neben dem Haus steht. Das Blätterwerk verdeckt ihn fast vollständig. Sie kneift die Augen zusammen, kann aber nicht erkennen, was er tut. Ein paar Minuten später sieht sie ihn den Baum hinunterklettern. Vorsichtig schaut er sich um und schleicht zurück zu ihr.
»Alles okay«, flüstert John. »Einen Moment noch …«
Isabella schaut ihn fragend an, doch er starrt angespannt auf den Garten.
Da huscht eine Gestalt durch die Büsche direkt auf sie zu.
Als Isabella das Gesicht sieht, weiß sie sofort: Das ist Johns Schwester. Die gleichen Augen, die hohen Wangenknochen, die strubbeligen Haare. Sie läuft auf ihn zu und fällt ihm in die Arme.
Isabella bleibt auf der Mauer sitzen. Das ist Johns und Maries Augenblick. Da hat sie nichts zu suchen. Die beiden nur zu sehen, macht sie glücklich und zuversichtlich. Glücklich, weil John sie nicht belogen hat, und zuversichtlich, weil sie nun weiß, dass sie noch heute Clara treffen wird – ihre Schwester. Wenn nur diese Schmerzen nicht wären und das vage Gefühl von Schwindel, das immer stärker wird.
In ihrer Not ruft Hannah Clara an. Und die ist sofort am Telefon. »Hannah!«, ruft sie durch den Hörer. »Schön, von dir zu hören. Gibt es etwas Neues?«
»Nein«, sagt sie leise. »Bei dir wohl auch nicht?«
»Nein, nichts Neues«, antwortet Clara. »Oh, Hannah, ich mache mir solche Sorgen. Ich war schon dreimal am Bahnhof, habe die möglichen Züge abgewartet. Aber nichts, keine Isabella!«
»Meinst du, ich hätte sie aufhalten sollen?«, fragt Hannah aufgeregt.
»Nein«, sagt Clara da entschieden, »mach dir bloß keine Vorwürfe. Wenn sich jemand an die Nase fassen müsste, sind das Astrid und Papa.
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