Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
schon lange, solange ich mich erinnern kann, diese nervöse Empfindsamkeit, die sie und mich so empfänglich werden ließ, für alles, das Schöne, das Traurige, das Entsetzen und die Sehnsucht nach dem Tod. Manchmal riss ein großes Loch auf, unter ihren Füßen, das hat meine Mutter mir erzählt, das spürte ich auch ohne Worte. Es lag immer ein Schleier über dieser Wehmut, etwas war da, schwer zu greifen. Erst kurz vor ihrem Tod hat sie sich mir anvertraut. Ich sei nun alt genug, gewisse Dinge zu verstehen, und sie ihrem Tod so nah, sie müsse sich einmal erleichtern, es gebe ein Geheimnis, sie müsse es einmal nur sagen, in ihrem Leben. All das habe so lange an ihren Nerven gezerrt. Ich sah sie mit großen Augen an, und sie begann, erst stockend, weil sie sich schämte, dann immer heftiger ging ihre Rede. Vielleicht ist sie daran gestorben, an all dieser entsetzlichen Scham.
Henriette zögert nun selbst, es kommt ihr nur schwer von den Lippen.
Mein lieber, heiß verehrter Herr Papa, der muntere Kaufmann Carl Adolph Keber, ein ehrenwertes Mitglied der protestantischen Gemeinde, der seine Tochter zum Beten erzog, hatte noch eine andere Frau beglückt. Eine junge Person, ein lediges Fräulein. Vermutlich war sie in seinem Geschäft erschienen, der Materialienhandlung Friedrichstraße 203, um Kräuter oder Gewürze oder Farben zu erstehen. Ein hübsches Fräulein und sehr jung, und vielleicht war meine Mama zu Hause ganz ohne Neigung gewesen, wenn es ihren Mann nachts zu ihr trieb. Jedenfalls, so ist es geschehen, und das fremde Fräulein, sie hieß Christiana Friederica, brachte pünktlich zur Weihnacht ein Mädchen zur Welt. Woher weißt du ihren Namen?, fragte ich. Und meine Mutter seufzte. Tief seufzte sie und schwer. Sie habe es, wie Frauen so sind, eben herausgefunden. Sie schwieg. Was sollte sie auch sagen? Es ist, wie es ist, sagte sie. Es war ihr stiller Kummer. Ich glaube aber, schloss Henriette, er war schon früher da. Vielleicht sogar schon immer.
Wie alt warst du, als das andere Mädchen zur Welt kam?, fragt Heinrich leise und rückt näher an sie heran.
Elf Jahre alt war ich da.
Ach, elf? Elf war ich, als mein Vater starb.
Es kommt ihm so vor, als erzählte sie ihm seine eigenen Geschichten, von den Fremdgängen und untergeschobenen Kindern, von den kleinen Bastarden, all dem Durcheinander, das die sinnlichen Begierden mit sich brachten! Er hatte eben recht gehabt, auch wenn die Damen in Ohnmacht fielen und Entsetzen heuchelten, wenn er ihnen vorlas, das »Käthchen«, das die Tochter des Kaisers war, oder seine »Marquise von O.«, imKriege und Halbschlaf geschwängert von einem unbekannten Mann.
Was wohl aus der Halbschwester geworden war, der kleinen Bastardin? Ob die eine Mutter manchmal von Weitem nach der anderen sah? Ob die eine, die Dame
Tugendreich
mit Namen, Mitleid mit der andern bekam? Ob sie heimlich an einer Ecke stand, um das andere Kind zu sehen? Ob es dem Vater wohl ähnlich sah?
Heinrich, hörst du mir zu? Du scheinst so in Gedanken!
Doch, doch, ich stelle es mir nur vor, was du da erzählst.
Die Kerzen flackern, im Ofen knackt das Holz,
so wie ich es mir immer vorgestellt habe, so wie ich es, ohne dass die Frauen und Männer ein Wort gesagt hätten, alles in ihren Gesichtern sah, es in ihren Körpern las, ohne es zu merken, nur um davon zu schreiben, hinterher, weil es sich in meinem Körper festgesetzt hatte, nicht mehr hinaus wollte und konnte als durch die Worte, in tausend schlaflosen Nächten, die Worte, die mir jetzt versiegen –
Der Kummer, so endet Henriette, er mochte ihr nicht vergehen, er war ein Abgrund ohne Ende, obwohl doch, und das war das Schlimmste, nach außen hin alles in Ordnung war, in schönster possierlichster Ordnung.
Wie kann etwas in Ordnung sein, sagt Heinrich, in seiner Stimme ein leises Kratzen, in einer Zeit, in der alles auf den Kopf gestellt wird? In der alle auf der Flucht sind, hierhin, dorthin, ohne Besinnung? In der der König, dem wir uns anvertrauten, davonrennt, vor Napoleon? In der eine Königin, die wir verehrten und liebten,nichts auszurichten weiß als um Gnade zu flehen, in ihrem schönsten Kleid, vor dem fremden Usurpator? Um sich dann bald hinzulegen und zu sterben, ade zu sagen, ade, liebes Leben?
Das hat meine Mutter nicht mehr erlebt, gibt Henriette zu bedenken, sie starb vier Jahre vor der Niederlage Preußens. Nein, ich glaube, es hat gar nichts zu tun mit Revolutionen und Kriegen, es ist ein Keim in einer drin, der
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