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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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keine Scham vor einem solchen Entschluss.
     
    Henriettes schönes dunkelbraunes Haar kräuselt sich über der feuchten Stirn. Sie sieht sich im Spiegel an. Ihr Unterkleid gibt den hellen Hals frei, sie ist nicht mehr jung, doch sie kann sich nicht erinnern, jemals so glühend ausgesehen zu haben, so erfüllt. Sie reist sehr langsam mit ihren Fingern über ihr eigenes Gesicht, die Augen, die Wangen, die leichten Senkungen und Erhebungen der Haut an den Narben, die Lippen, sie öffnet leicht den Mund, ein leiser fremder Ton, sehr tief, entfährt ihr, sie gleitet hinab am Hals und tiefer. Ihre Augen sehen sich selbst an, auch sie dunkel, dunkelblau, im Kerzenlicht, fremd und doch vertraut. Sie nimmt die Bürste, legt sie wieder fort, ihr gefällt das aufgelöste Haar so, wie es ist, sie kann es am Morgen bürsten.
    Sie denkt noch einmal an ihr Kind, Pauline, sie erinnert sich, wie sie ihr das Haar gebürstet hat, und ohne ihr Zutun schwebt ihr Arm in die Höhe und die Hand mit der Bürste streicht über ein unsichtbares Haar, so, erst einmal das Gewirr entwirren, ja, ich weiß, das ziept, macht nichts, es muss sein, du weißt ja, wer schön sein will, muss leiden, so, jetzt hundert Bürstenstriche, nur sowird das Haar so prächtig wie das einer Königin, so, und nun ein bisschen strenger, denn gleich werde ich es dir flechten, in zwei dicke schöne Zöpfe   …
    Sie lässt die Hand sinken.
     
    Ich bin Henriette, denkt sie, Henriette Adolphine Vogel, geborene Keber. Ich sage mir diesen Namen vor; keinen, den du mir gegeben hast, sondern den, den ich in meinem Leben trug, mit dem ich von anderen angesprochen wurde, den andere mit mir verbanden. Ich betrachte mich im Spiegel, sehe mich an und sage mir diesen Namen, forme ihn mit den Lippen, als könnte ich damit etwas begreifen von meinem sonderbaren Leben, vom Leben überhaupt. Es sind die letzten Stunden und sie schmecken wie die Himbeeren des Sommers, sie riechen zugleich wie das herbstlich faulige Wasser des Sees, das herüberweht, wenn ich das Fenster öffne, einen Augenblick, um meine Hitze zu kühlen. Die Hitze kommt und geht, als hätten meine ruhelosen Gedanken eigene Temperaturen, sie jagen hoch und wieder hinab, und anders als in allen meinen vorangegangenen Tagen liebe ich dieses Gefühl. Vorhin habe ich meinen Kopf auf das kühle Leinen des Bettzeugs gelegt und habe von dort aus in das Zimmer gesehen, ich habe den einfachen Stuhl mit meinen Blicken gestreichelt, den schönen Tisch aus weichem Holz, meine Kleider, die aufgehängt sind an einem Haken und auf mich warten, für morgen, unseren letzten Tag. Auf dem Tisch liegen all die Briefe, die wir heute Nacht geschrieben haben, die ich in den letzten Wochen entworfen habe, immer wieder eine Wendung bedenkend, verwerfend, sie neu erfindend, an meine Freundin, an Louis, meinen Mann, an Pauline,meine Tochter, sie wird im Dezember schon neun. Dieser Brief kam mich am schwersten an; was soll ich meinem Kind sagen, weshalb ich es verlasse? Ich habe ihr gesagt, es sei besser für sie, wenn ihre Mutter, ohne allen zur Last zu fallen, früher von ihnen geht. Ich habe ihr gesagt, und dabei mich selbst gemeint, dass es unsere Freiheit ist, den Augenblick des Sterbens selbst zu bestimmen. Ich habe diesen Satz wieder durchgestrichen, denn was soll es einem Kind bedeuten, das doch so unbekümmert erst in das Leben hineinlaufen soll? Das Laken konnte die Hitze dieses Gedankens nicht kühlen; ich musste aufspringen und zum Fenster eilen. Die Sehnsucht danach, Pauline an mich zu drücken und um Verzeihung zu bitten, wofür ich gar kein Verzeihen will, riss noch einmal so stark an mir, ich musste atmen und atmen, um mich zu beruhigen. Ich nahm einen Schluck aus der Flasche mit Rum, die Heinrich mir im Korb gelassen hat, er brannte kräftig in meiner Kehle, im Magen, sehr kräftig, ich musste einen Augenblick um Luft ringen, und dann hörte ich Heinrich drüben in seinem Zimmer aufschluchzen, etwas reden, halblaut, wie er es fast die ganze Nacht getan hat, wenn er nicht bei mir war, und es schien mir, als näherte er sich der Tür. Ich hielt inne und lauschte, ich machte zwei, drei leise Schritte zu ihm hin, und für einen Augenblick hatte ich das sichere Gefühl, als hätte er den Kopf auf seiner Seite ans Holz gelehnt. Wollte er hören, ob ich schlafe? Wollte er mir etwas sagen? Er hat sicher das Licht gesehen, vielleicht sorgte er sich, ich könnte bei brennender Kerze eingenickt sein, so wie manchmal früher, wenn ich an

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