Wir sind alle Islaender
als nach der Operation in New York, aber sie griff viel entschiedener ein.
»Es schien mir, dass ich im November zu wenig Initiative gezeigt hatte, ich denke, da hätten wir von den Linken schon mehr Führungsstärke zeigen müssen. Als ich aus Stockholm kam, erkannte ich, dass die Konservativen nichts tun würden. David Oddsson war weiterhin Zentralbankchef, sie hatten ihren Parteitag verschoben, die Sache mit der EU lag auf Eis – es war Zeit, dass wir die Führung der Regierung übernahmen. Und ich wusste, dazu brauchten wir jemanden, der bei der Bevölkerung Vertrauen genoss. Und da fiel mir plötzlich Johanna (Sozialministerin der Regierung) ein. Sie erfüllte alle Kriterien. Ich wünschte nur, ich wäre schon im Dezember darauf gekommen.«
Mit der neuen Regierungsbildung trat Ingibjörg Solrun als Außenministerin zurück und flog sofort in den Süden, um sich drei Wochen der Genesung zu gönnen. Als unser Gespräch stattfindet, ist sie gerade zurückgekommen.
»Was glaubst du, wird mit unserem Land passieren?«, frage ich sie.
»Keine Ahnung. Da gibt es viele Möglichkeiten. Wir waren ohne Staatsverschuldung, jetzt sind wir vielleicht ein durchschnittsverschuldeter Staat. Wir haben jede Möglichkeit, uns zu erholen. Aber was wir lernen können und müssen, ist, dass Habgier und die Gesetze des Marktes auch sehr destruktive Kräfte sein können, so sehr sie manchmal auch nützlich sind. Es sollte ein Gleichgewicht zwischen Kapital und Staat herrschen. Der Staat hat weiterhin die wichtige Funktion, das Kapital zu zähmen, damit die Kräfte des Marktes konstruktiv für die Menschen wirken.«
Während des Gesprächs klingelt das Telefon andauernd, Mann und Sohn antworten abwechselnd. Man wartet auf
Ingibjörg Solruns Entscheidung, ob sie bei den Wahlen und für den Parteivorsitz kandidiert. Das sollte tags darauf bekannt gegeben werden. Ich merke, dass sie kandidieren möchte:
»Weißt du, aufgeben liegt mir nicht, ich will den Tumor nicht gewinnen lassen. Mag sein, dass die Krankheit wiederkommt und die Geschwulst wieder zu wachsen anfängt, aber ich traue mir den Kampf zu. Ich habe noch einiges zu erledigen.«
Tags darauf halten Johanna Sigurdardottir und Ingibjörg Solrun eine gemeinsame Pressekonferenz ab, auf der sie bekannt geben, dass Johanna als Premierministerkandidatin der Sozialdemokraten in die Wahlen gehen wird, Ingibjörg Solrun sich um den zweiten Platz auf der Liste in Reykjavík, nach Johanna, bewirbt und gleichzeitig weiterhin für den Parteivorsitz zur Verfügung steht. Die Entscheidung wird von manchen willkommen geheißen, ist aber bei Weitem nicht unumstritten.
Eine Woche verstreicht. Es ist ein schöner Sonntag, als Ingibjörg Solrun kurzfristig eine Pressekonferenz bei sich zu Hause einberuft. Sichtlich geschwächt erklärt sie ihren Rücktritt von allen Parteiämtern. Bei den Wahlen wird sie nicht kandidieren.
»Es ist an der Zeit, dass ich meine Niederlage anerkenne«, sagt sie. Sie meint den Tumor.
Mit dem Lastwagen gegen die Wand
Jakob Lindal, Architekt
»Plötzlich standen wir mit unserer siebenköpfigen
Mannschaft am Rande des Abgrunds.«
Jakob Lindal, 52, ist ein gut ausgebildeter Architekt, der seit mehr als zehn Jahren mit einem Kollegen seine eigene Firma führt. Sie waren erfolgreich, mit vielen guten Aufträgen versorgt und einem soliden Umsatz gesegnet.
»Am 1. Oktober 2008 war unser Architekturbüro mit seinen sieben Angestellten zwei Jahre im Voraus ausgebucht. Seit zehn Jahren hatten wir uns nicht um Aufträge bewerben müssen, wir brauchten längst keine Kredite mehr, auf unserem Konto hatten wir den Umsatz von knapp zwei Monaten stehen, alles in allem war es ein guter Betrieb. Dann kippte Glitnir, und mir war sofort klar, dass es jetzt schwierig werden würde. Als Geir Haarde seine Gott-segne-Island -Rede hielt, war das für mich keine Überraschung, sondern die nackte Wahrheit. Ich wusste, dass dieses Land Gott nötig hatte. Ich hatte sogar meinen Bruder in Kanada angerufen und ihm gesagt, es sei nicht ausgeschlossen, dass ich mit meiner gesamten Familie zu ihm ziehen würde. Als die anderen Banken stürzten, bedeutete dies das Aus für unser Büro. Innerhalb einer Woche kamen sämtliche Aktivitäten zum Stillstand. Und mit den Banken stürzten auch die Aktien und damit schwanden meine Ersparnisse. Ich bin ja zweiundfünfzig und habe seit einigen Jahren versucht, vorzusorgen, was am Monatsende übrig blieb, in Aktien und Wertpapieren zu investieren und
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