Wir sind alle Islaender
kochten auch noch die Gerüchte über eine Umbildung der Regierung hoch, wo ich das Finanzministerium übernehmen sollte.«
Bei Ingibjörg Solruns Erläuterung kommt man nicht umhin zu fragen, wieso sie überhaupt in der Regierung blieb und wieso die Umbildung nicht kräftiger betrieben wurde.
»Natürlich gab es Gründe für einen Rücktritt des Finanzministers, aber ich war nicht unbedingt dazu imstande, dieses schwierige Ministerium zu übernehmen. Die Unabhängigkeitspartei hätte ja auch von sich aus wechseln können. Aber aus dieser Richtung kam nichts. Zwei Dinge waren meiner Partei besonders wichtig: ein Wechsel in der Leitung der Zentralbank und die Entscheidung für Beitrittsverhandlungen mit der EU. Aber Geir Haarde wollte an der Zentralbank erst mal nicht rühren. Er sagte, er könnte das erst nach dem Parteitag, der für Ende Januar angesagt war, machen, aber danach würde die Partei sich auch für Beitrittsverhandlungen mit der EU aussprechen. Diese Gespräche fanden um Neujahr herum statt. Ich dachte damals, lasst uns ihren Parteitag abwarten. Wenn die Unabhängigen danach nicht dazu stehen, haben wir jeden
Grund, die Koalition platzen zu lassen. Hätten wir das im November gemacht, hätte es so ausgesehen, als ob wir vor den schwierigen Aufgaben davongelaufen wären.«
So wurden eigentlich alle Entscheidungen einfach verschoben, möglicherweise auch aus privaten Gründen:
»Anfang Januar erfahre ich dann, dass ich nach Stockholm muss, um den Tumor mit so genannten Gammastrahlen behandeln zu lassen. Ginge alles nach Plan, wäre ich rechtzeitig vor dem Parteitag zurück und arbeitsfähig. Also dachte ich, warten wir erst mal den Parteitag Ende Januar ab.«
Ingibjörg Solrun sagt das alles eher gelassen, und es mag für viele vernünftig und politisch vertretbar klingen, und doch sollte sie sich in diesem Punkt irren. Wie schon erwähnt, nahm das Parlament nach der Weihnachtspause seine Arbeit am 20. Januar wieder auf, woraufhin es zu den besagten großen Protesten kam. Tags darauf flog Ingibjörg Solrun nach Stockholm.
»Natürlich war es absurd, dass die erste Parlamentssitzung nicht mit einer Ansprache des Premierministers zur wirtschaftlichen Lage der Nation begann. Die Proteste waren äußerst verständlich. Und wieder musste ich die Geschehnisse von einem Krankenbett im Ausland verfolgen. Aber mir war auch, als ob alle meine Parteikollegen einfach aufgaben. Keiner versuchte den Leuten die Sachlage zu erklären. Man gab einfach auf. Die Bevölkerung war wütend und aufgeregt, was höchstverständlich war, aber gerade in so einer Situation sollten Politiker ja eigentlich Ruhe bewahren.«
Was Ingibjörg Solrun indes selbst nicht so recht gelang, wenn man an ihren umstrittenen Auftritt denkt, als sie während der Proteste einem vollbesetzten Saal von aufgebrachten
Leuten zurief: »Ihr seid nicht das Volk.« Inzwischen gibt es sogar eine Rockband, die sich »Nicht das Volk« nennt.
»Es mag ja arrogant klingen, aber es hilft nichts. Die Bevölkerung hat das Recht zu protestieren, aber die Politiker müssen Lösungen finden. Es hilft nicht, wenn Politiker mitschreien. Sie müssen erklären und Lösungsvorschläge machen, dazu sind sie gewählt. Aber niemand wollte die unbequeme Wahrheit hören.«
Ingibjörg Solrun kehrte nach knapp einer Woche aus Stockholm zurück; die Reise war allerdings nicht wie geplant verlaufen. Auf dem Behandlungstisch hatten ihr die schwedischen Ärzte erklärt, man wolle lieber schneiden als bestrahlen, und spätestens da wurde Ingibjörg Solrun klar, wie ernst auch die Krise in ihrem Kopf war.
Zurück in Island stand sie vor schweren Entscheidungen und war in ihrer Partei ziemlich isoliert. Sie stellte der Unabhängigkeitspartei, die inzwischen ihren Parteitag verschoben hatte, ein Ultimatum. Die Zentralbankleitung sollte sofort ausgewechselt werden, und die Sozialdemokraten sollten den Premierminister stellen, wofür sie Johanna Sigurdardottir vorschlug, die Politikerin, die das weitaus größte Vertrauen genoss. Die Unabhängigen wollten und konnten diesen Vorschlägen nicht zustimmen, die Regierung zerbrach, in wenigen Tagen wurde eine neue Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Links-Grünen gebildet. Ingibjörg Solrun war dabei die maßgebende Politikerin, es ging hart zur Sache, und dabei konnten alle im Fernsehen miterleben, dass es ihr schlecht ging, dass sie schwankte und kaum ohne Hilfe gehen konnte. Ihr Gesundheitszustand war sehr viel schlechter
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