Wir sind alle Islaender
nicht! An was sollen wir uns denn halten? Sollen wir mit denselben Politikern, denselben Bankdirektoren, weitermachen? Ich bin immer bereit zu verzeihen, aber nicht, wenn niemand bereut.
Die, die für den Kollaps verantwortlich sind, tragen auch die
Verantwortung für die Ruinen. Und sie sind es, die mit dem Aufräumen beginnen müssen. Wenn es so weit ist, werde ich als Erste verzeihen und beim Aufbau des neuen Islands Zusammenhalt zeigen.
Bis es so weit ist, dass jemand Reue zeigt, Verantwortung übernimmt, sich bei mir entschuldigt, will ich davon verschont werden, dass man an mein Gewissen, meinen Optimismus und meine Fähigkeit zu verzeihen appelliert, und mich bittet, »Zusammenhalt« zu zeigen.
Auch auf diesen Leserbrief hat Maria viele Reaktionen bekommen. Wir fragen sie, wie es denn weiterging mit dem Kredit.
»Die ersten drei Monate liefen einfach so dahin, Raten von dreihundertvierzigtausend im Monat, die wir nicht bezahlen konnten. In meiner Familie wäre so etwas früher unvorstellbar gewesen. Mein Vater riss immer dem Postboten die Rechnungen schon an der Tür aus der Hand, um mit ihnen in die Bank zu rennen, alles wurde immer sofort bezahlt. Mir war einfach übel. Dazu kam noch, dass mein Mann zur selben Zeit eine schwere Herzoperation über sich ergehen lassen musste und wochenlang im Krankenhaus lag.«
»Als er aus dem Krankenhaus kam, fädelte er ein Abkommen mit der Bank ein, sie haben den Kredit eingefroren, wie sie es nennen. Jetzt zahlen wir wie früher knapp einhundertzwanzigtausend im Monat, aber der Kredit beläuft sich auf neununddreißig Millionen, ist also fast doppelt so hoch wie am Anfang, und wir zahlen nur Zinsen. Ich weiß wirklich nicht, wie das Ganze enden soll. Stell dir vor, meine Enkelkinder, die können mein Häuschen nicht erben, weil die Hypothek viel zu hoch ist.«
Hat Maria an den Protesten teilgenommen?
»Ich habe die Leute, die mit ihren Töpfen und Pfannen auf den Austurvöllur gingen, bewundert. Natürlich mag ich keine Gewalt, das brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren. Aber all diese normalen Leute, Menschen wie du und ich, die auf die Straße gingen, das sind für mich Helden. Ich bin ein paar Mal zu den Samstagsdemonstrationen, und einmal habe ich auch das Lagerfeuer auf Austurvöllur erlebt, und ich war zu Tränen gerührt. Da war ich stolz auf mein Volk.«
Und an ihrem Arbeitsplatz, was hat sich hier verändert?
»Schon zu Weihnachten habe ich im Kindergarten bemerkt, dass die Kinder viel ruhiger waren als sonst. Vielleicht waren die Leute allgemein ruhiger, weil sie noch unter Schock standen, aber ich glaube, die Kinder haben einfach mehr Zeit mit ihren Eltern verbracht. In dem Sinne kam die Krise unseren Kindern zugute. Aber ich spüre auch die Auswirkungen der steigenden Arbeitslosigkeit. Drei Kinder haben den Kindergarten verlassen, weil ihre Familien entweder ins Ausland gingen oder aufs Land gezogen sind. Wir müssen auf unsere Jugendlichen aufpassen. Ich habe gehört, dass nach der Krise in Finnland vor zehn Jahren viele Depressionen bekommen hätten, dass danach psychische Krankheiten allgemein sehr zugenommen hätten. Da müssen wir aufpassen. Deswegen ist eine Entschuldigung von höchster Stelle auch so wichtig. Erst wenn die Schuldigen sich wirklich zu ihrer Verantwortung bekennen, können wir uns zusammen an den Aufbau machen.«
Und einmal waren wir fünftausend
Sigurdur Hardarson,
Krankenpfleger und Anarchist
»Die Revolution darf nicht im Suff ersticken.«
Sigurdur Hardarson, 42, Familienvater und ausgebildeter Krankenpfleger, ist überzeugter Anarchist. Während der Kochtopfrevolution war der Herausgeber von Büchern, Zeitschriften und anarchistischen Pamphleten einer der eher prominenten Köpfe des Protestes. Nichtsdestotrotz ist er als Krankenpfleger in der Notaufnahme des größten Krankenhauses im Lande auch ein öffentlicher Angestellter. Gab es da nie Interessenskonflikte?
»Dass ich an Demonstrationen teilgenommen habe, fing ja nicht erst mit der Krise an, ich war immer gegen das kapitalistische System. Es ging dabei ja nie um den freien Markt, sondern immer um die Monopolisierung von Geld und Macht. Die Vermarktung aller Dinge ist aus meiner Sicht ein Angriff auf die menschliche Gesellschaft. Arbeit sollte etwas Kreatives sein, nicht eine digitalisierte Produktion von Geld. Deswegen bin ich Krankenpfleger und Anarchist, weil es mir um die menschliche Gesellschaft geht. Ich bin auch Krankenpfleger geworden, weil ich
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