Wir sind alle Islaender
vergessen, Island ist nur der Beginn der Krise. Sie ist international und wird sich ausbreiten und schlimmer werden. Was meinst du, was wir dann für einen Aktivismus erleben werden! Da kann die Welt noch viel lernen von uns Isländern.«
Unter Hausarrest
Rakel Sölvadottir, IT-Spezialistin
»Ich schreibe lieber Briefe,
als auf Demonstrationen zu gehen.«
Rakel Sölvadottir, 34, spricht klipp und klar über ihre Situation, mehr Mathematikerin als Philosophin, die vor der Krise kein besonderes Bedürfnis hatte, sich gesellschaftspolitisch hervorzutun. Sie arbeitet bei einer großen Firma, die Computerprogramme für das Finanzwesen entwickelt, und obwohl viele ihrer Kollegen inzwischen ihren Job verloren haben, fühlt Rakel sich in dieser Hinsicht relativ sicher. Für einen anderen Bereich gilt das nicht: Die junge Frau ist nämlich durch die isländische Bankenkrise gewissermaßen unverschuldet in Hausarrest geraten. Ihre Wohnung ist jetzt viel weniger wert als die Hypothek, die auf ihr lastet. Vor ein paar Jahren ließ sie sich von ihrem Mann scheiden und kaufte ihm damals seinen Teil der gemeinsamen Zwei-Zimmer-Wohnung in einer wohlhabenden Kleinstadt, Gardabaer, bei Reykjavík ab. Sie tat das, damit ihre Kinder, fünf und acht Jahre alt, weiter in der gleichen Umgebung aufwachsen könnten, nachdem sie von der Scheidung schon verunsichert genug waren. Deutsche Leser mögen bedenken, dass in Island die meisten Menschen traditionell ihre eigene Wohnung oder ihr eigenes Haus haben, auch wenn das Ganze auf Kredit finanziert ist.
Als Rakel damals zuschlug, konnte sie den späteren Zusammenbruch des Immobilienmarkts nicht vorhersehen. Jetzt, vier Jahre später, bräuchte sie eigentlich ein zweites Kinderzimmer, um ihre beiden Kinder voneinander zu trennen. Am besten müsste sie auch in eine größere Gemeinde umziehen,
wo man ihrem hyperaktiven Sohn die Hilfe anbieten könnte, die er bräuchte.
»Ja, im Grunde hält mich das indexgebundene Darlehen (in Island sehr üblich) gefangen. Die Banken haben damals ihren Kunden Darlehen zum Immobilienkauf angeboten und einem bis zu neunzig Prozent des Kaufpreises geliehen. Ich habe das Angebot angenommen, um meinen Ex-Mann ausbezahlen zu können. Dazu kamen noch Reparaturen für zwei Millionen.«
»Ich bin niemand, der sich über ungelegte Eier den Kopf zerbricht. Natürlich macht man sich Gedanken, wenn in der Firma, in der man arbeitet, Kündigungen ausgesprochen werden. Aber bis jetzt ist alles gut gegangen. Mein Problem ist eher, dass ich wegen des Kredits in der Luft schwebe. Bisher kam ich mit den Raten gut zurecht, wie immer in meinem Leben, aber ich kann die Wohnung nicht verkaufen, jedenfalls nicht zu einem Preis, der in einem richtigen Verhältnis zu meinem Kredit steht. Und weil ich sozusagen noch solvent bin und abbezahlen kann, bietet man mir auch keine Lösung an. Ich könnte mich natürlich für zahlungsunfähig erklären und der Bank die Wohnung abtreten, aber dann würde ich sofort meinen Arbeitsplatz verlieren, da meine Firma denselben gesetzlichen Regelungen unterliegt wie die Banken, das heißt, sie darf keine Leute anstellen, die im Konkurs sind. Die neuen Gesetze (oder Maßnahmen, um Leuten zu helfen, die nach der Finanzkrise in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind) nützen nur denen, die die größten Probleme haben. Die Mittelschicht muss immer zahlen!«
»Ich habe mir schon überlegt, ins Ausland zu ziehen, um mich weiterzubilden, denn dafür könnte man ein Staatsdarlehen bekommen, aber ich mache mir Sorgen um meinen Sohn.
Er geht einmal die Woche zur Sprachtherapie, und ich würde gerne sehen, dass er größere Fortschritte macht, bevor er mit noch einer Sprache konfrontiert wird, der Arme. Solange er noch nicht alle isländischen Laute beherrscht, ist das schwierig. Im Herbst muss er in die Schule, und diese Vorschulzeit jetzt ist für ihn unheimlich wichtig.«
Rakel wohnt in einer konservativen Kleinstadt, in der die Verwaltung ihrer Meinung nach die sozialen Bedürfnisse ihrer Einwohner vernachlässigt. Ihr Sohn ist hyperaktiv und kämpft mit Konzentrationsproblemen. Er müsste, so sagen die Psychologen, viel Unterstützung in seiner näheren Umgebung erhalten. Die bekommt er hier nicht, und deswegen möchte Rakel gerne in eine andere Gemeinde ziehen, wo man auf dem Gebiet schon weiter ist.
»Der Psychologe bei der Gemeinde hier schlug vor, dass meinem Sohn eine Hilfskraft zugeteilt würde, er macht sich wirklich Sorgen um ihn, aber dann
Weitere Kostenlose Bücher