Wir sind alle Islaender
wusste, dass ich dann niemals arbeitslos werden würde und beruflich immer etwas Sinnvolles tun würde.«
»Ich war immer gegen Machtpyramiden oder Hierarchien, sei es in der freien Marktwirtschaft oder im Staat, und ich glaube, dass sie überdies wirtschaftlich ungesund sind. Wenn diese Pyramiden zusammenstürzen, wie jetzt, werden die Menschen so hilflos, weil sie es gewohnt sind, dass jemand für sie sorgt. Man sieht es ja auch an meinem Arbeitsplatz, mehr und
mehr Leute kommen hier mit Kleinigkeiten in die Notaufnahme und wollen ein Pflaster haben. Seit sieben Jahren bin ich hier und sehe, wie immer mehr junge Männer kommen, denen eigentlich gar nichts fehlt, weil sie es gewohnt sind, dass das System sich um sie kümmert.«
»Die Krise habe ich natürlich erwartet. Ist ja nur simple Physik, wenn sich etwas mehr und mehr ausdehnt, wird es mal platzen, ist überall so, eigentlich lustig. Also hat sie mich nicht überrascht, aber sie kam sehr plötzlich und hat die Menschen sehr direkt getroffen. Wirtschaftlich ist sie mir vollkommen egal, ich finde sie nur ungerecht, weil wir alle die Schulden von einigen wenigen begleichen sollen.«
»Für mich ist es eine Herausforderung, gegen diese Mächte zu kämpfen. Wir müssen die Gegenmacht formen und die Gesellschaft wieder aufbauen, das meinen jetzt viele, überall im Lande, eine wirkliche Gesellschaft aufbauen, und nicht eine, die von den Banken dirigiert wird. Hoffentlich haben die Leute aus der Krise gelernt. Aber kein Einzelner soll so tun, als hätte er die Lösung, ich bin nur Teil einer Bewegung, die aus vielen Köpfen besteht, und das Schöne an ihr ist ja, dass sie keine Anführer hat, keine Partei ist.«
»Unsere Demonstrationen und Proteste sind immer spontan; man bekommt vielleicht eine SMS oder eine E-Mail von jemandem, den man nicht kennt, und da steht, wir wollen gleich eine Regierungssitzung verhindern. Und dann gehe ich dahin, und manchmal sind zwanzig Leute da und manchmal zweihundert, und einmal waren wir fünftausend«, sagt Sigurdur lachend und behauptet, dass es in so einer kleinen Gesellschaft wie der isländischen relativ leicht sei, Einfluss zu nehmen.
»Als die Demonstrationen dann wirklich sehr groß und breit
wurden, habe ich mit meinen Freunden darüber geredet, dass wir aufpassen müssen, dass das Ganze nicht in ein Saufgelage an den Wochenenden ausartet. Wir haben deshalb haufenweise E-Mails verschickt, auch an die Presse, mit der Aufforderung, freitagabends nach acht Uhr nicht mehr zu demonstrieren. Die Revolution darf nicht im Suff ersticken. Und das hat auch geklappt. Ich war derjenige, der anfing, ich war der Schmetterling, der in Afrika mit den Flügeln schlug. Es verbreitete sich über die Internetmedien, und Freitag- und Samstagabend wurde nicht mehr demonstriert.«
»So habe ich meine politischen Aktivitäten immer gesehen. Man sät und sieht zu, wie die Saat aufgeht. Aus meiner Sicht ist es ein Kennzeichen politischer Armut, dass sich hierzulande alles nach den Parteien richtet; niemand kann sich zu Wort melden, ohne mit einer bestimmten Partei in Verbindung gebracht zu werden. Die Leute protestieren ja nicht nur wegen der Krise, sondern auch gegen die politische Armut. Die Links-Grünen sind längst keine Kommunisten, und die Unabhängigen sind auch keine echten Kapitalisten. Wenn ich konservativ eingestellt wäre, wäre ich genauso wütend, denn hier herrscht doch kein freier Markt, und die Gesetze der freien Marktwirtschaft wirken doch gar nicht.«
»Als Geir Haarde am 6. Oktober seine Rede hielt, war ich in der Notaufnahme und habe es übers Internet verfolgt, aber davor war es ja schon der Witz des Tages: Wann gehen wir heute in den Konkurs? Ich habe es schon erwartet, obwohl der Sturz sehr plötzlich kam, aber insgeheim habe ich mich auch gefreut. Nicht dass ich mich damit brüsten wollte: Ich habe es euch ja immer gesagt. Eher: Na gut, mal sehen, was morgen noch auf unserem Sparkonto steht. Es war es wert, sein Angespartes zu
verlieren, um das System zusammenbrechen zu sehen. Nicht dass ich mich darüber freue, wenn Menschen ihre Arbeit verlieren. Aber dieser Aufschwung, diese Expansion, musste ja auch aus ökologischen Gründen ein Ende haben. Sonst wären wir an unserem eigenen Müll erstickt. Deswegen hat es mich ein kleines bisschen gefreut, das System zusammenstürzen zu sehen.«
»Ich habe es nicht als einen Sturz Islands oder der Gesellschaft wahrgenommen. Ich sah nur, wie dieses virtuelle System, das
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