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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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tun. Wenn nicht, dann steht es mir nicht zu, darüber zu reden. Jeder hat ein Recht auf sein Privatleben, nicht wahr? Erzähl mir von deinem kleinen Polizistenfreund. Bist du nur in ihn verknallt, oder läuft da mehr? Etwas, worauf ich eifersüchtig sein müsste?«
    »Jeder hat ein Recht auf sein Privatleben, nicht wahr?«, gab Lena zurück.
    Jetzt zog Louise einen übertriebenen Schmollmund, stellte aber immerhin keine entsprechende Frage mehr, sondern konzentrierte sich ganz darauf, so vorschriftsmäßig zu fahren, dass es schon fast wieder auffiel. Offensichtlich wollte sie auf gar keinen Fall in eine Polizeikontrolle geraten. Lena war es nur recht.
    Sie wartete, bis Louise den Wagen beim ersten Schimmer von Gelb an einer besonders belebten Kreuzung zum Stillstand gebracht hatte, riss die Tür auf und war in der Menschenmenge verschwunden, noch bevor Louise richtig begriff, was sie tat.

29
    Da war etwas, was Lena vergessen hatte, so absurd es ihr im Nachhinein auch selbst vorkam: ihren Hunger.
    Zuerst war sie durch die Straßen geeilt und hatte nichts anderes versucht, als irgendwo in der Menschenmenge unterzutauchen. Eine gute halbe Stunde lang war sie ziellos herumgeirrt, bevor sie sich auch nur halbwegs sicher war, ihre beiden Verfolgerinnen abgeschüttelt zu haben, und sie hatte eine weitere Viertelstunde investiert, indem sie einen Taxistand aus wechselnden Verstecken heraus aufmerksam beobachtete, bevor sie es wagte, in einen der Wagen zu steigen und dem Fahrer die Adresse zu nennen.
    Dann war der Hunger gekommen.
    Während der ersten Minuten hatte sie sich immer wieder herumgedreht und die Straße hinter sich abgesucht, irgendwie davon überzeugt, im nächsten Moment die Scheinwerfer des Hummer hinter sich auftauchen zu sehen, der mit seinen unzähligen PS zu ihnen aufholte und das Taxi samt seinen Insassen einfach niederwalzte, weil Louise der Spielchen überdrüssig geworden war.
    Weder der Hummer noch Louise oder Charlotte tauchten auf, aber der Hunger blieb. Es war nicht die rasende Gier, die sie schon mehrmals erlebt hatte und die ihr fast den Verstand raubte, sondern nur ein dumpfes Nagen und Fordern in ihren Eingeweiden, weit davon entfernt, qualvoll zu sein, aber es war beharrlich,
und es würde auch nicht aufhören. Nicht, solange ein lebender Mensch und sein warmes Blut in ihrer Nähe waren.
    Wie zum Beispiel der Taxifahrer.
    Lena vermied es, ihn anzusehen, aber sie spürte umgekehrt, wie er sie anstarrte, amüsierte sich eine Weile an allen möglichen Wahnvorstellungen, die einem Teil von ihr umso plausibler vorkamen, je paranoider sie waren, und zwang sich dann wieder, einigermaßen logisch zu denken. Der Fahrer stand weder auf Louises Lohnliste, noch war er ein Polizeispitzel oder nebenberuflicher Sittenstrolch. Sie war ein gut aussehendes junges Mädchen, das offensichtlich in aller Hast in sein Taxi gesprungen war, sich ununterbrochen umsah, am ganzen Leib zitterte und bleich wie die Wand war, und er machte sich so seine Gedanken, das war alles. Kein Grund, sich zu sorgen.
    Der Hunger war noch lange nicht so schlimm, dass sie die Beherrschung verlieren konnte, aber er war da, und er machte ihr Angst, weil er nicht verschwinden, sondern auch morgen noch da sein würde, und übermorgen und am Tag danach, und er würde schlimmer werden, und vielleicht würde es dann einen Taxifahrer geben, der weniger Glück hatte.
    »Ist alles in Ordnung mit dir, Mädchen?«
    Lena fuhr erschrocken zusammen, sah einen Moment lang verständnislos ins Gesicht des grauhaarigen Taxifahrers und begriff erst dann, dass sie ihn schon seit einer ganzen Weile angestarrt hatte, ohne es selbst zu merken. Sie hatte die Hände im Schoß zu Fäusten geballt.
    »Nichts«, entgegnete sie. »Es ist alles in Ordnung. Warum?«
    »Weil ich schon blind sein müsste, um dir das zu glauben«, antwortete er. »Ist jemand hinter dir her?«
    »Es ist alles in Ordnung«, beharrte sie.
    Er wirkte enttäuscht, hob aber nur die Schultern und konzentrierte sich wieder auf den spärlichen Verkehr. »Geht mich ja auch nichts an … Und da wären wir auch schon.«

    Lena sah verwirrt aus dem Fenster. Sie hatte nicht auf ihre Umgebung geachtet, aber dafür war sie jetzt umso überraschter, als der Wagen vor einem heruntergekommenen Plattenbau anhielt, der mindestens so schlimm aussah wie das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter gelebt hatte. Obwohl es noch nicht einmal zehn war, brannte hinter weniger als der Hälfte aller Fenster Licht, und ein

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