Wir sind die Nacht
fühlst. Jedem von uns ist es am Anfang so gegangen. Man gewöhnt sich daran.«
»Ein Mörder zu sein?«
Charlotte sah jetzt eher verletzt als wütend aus. Sie antwortete
auch nicht gleich, sondern sah sie einen Moment lang durchdringend an und deutete dann auf die andere Straßenseite, wo Kellers Wagen stand. »Siehst du den Luxusschlitten dort?«
Lena nickte.
»Hast du eine Ahnung, was so was kostet?«
»Nein. Und was hat das damit zu tun, dass …?«
»Allein der Unterhalt kostet wahrscheinlich mehr, als ein kleiner Filialleiter wie Keller verdient«, fuhr Charlotte unbeeindruckt fort. »Der Kerl trägt Maßanzüge, wohnt in einer Villa mit Pool am Stadtrand und ist Dauerkunde in einem Edelpuff, der sogar Anton zu teuer wäre. Und was glaubst du, womit er das alles finanziert?«
»Das weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht.«
»Er steckt bis hierher in krummen Geschäften.« Charlotte fuhr sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang. »Anlageund Immobiliengeschäfte, bei denen nur einer verdient, und das ist er. Lass dich nicht von seinem eleganten Auftreten und seinem Babyface täuschen, Lena. Der Kerl ist ein skrupelloser Betrüger, und seine bevorzugten Opfer sind einfache Leute, denen er weismacht, ihnen die große Chance ihres Lebens zu bieten. Leuten wie deiner Mutter, Lena. Er gaukelt ihnen vor, sie reich zu machen, und am Ende sind sie ruiniert und haben auch noch das wenige verloren, das sie ohnehin nur hatten. Der Kerl ist ein Schwein, Lena. Ich weiß von mindestens drei Leuten, die Selbstmord begangen haben, nachdem er mit ihnen fertig war. Er muss dir nicht leidtun, glaub mir.«
Selbst, wenn das stimmte, dachte Lena - gab ihnen das das Recht, sich zu seinem Richter aufzuschwingen? Sie schwieg.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Louise auftauchte. Sie kam allein aus der Bank, schloss die Tür sorgfältig hinter sich ab und ließ sich nach zwei Schritten in die Hocke sinken, um etwas in den Gully zu werfen. Ohne von den immer noch strömenden Regenschleiern berührt zu werden, überquerte sie die
Straße, stieg ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Augen, als sie das Durcheinander aus Geldbündeln und Schmuckstücken zu Lenas Füßen sah. Statt den Motor zu starten, drehte sie sich halb auf ihrem Sitz herum und sah Charlotte und sie abwechselnd an.
»Ist hier etwas passiert, von dem ich wissen sollte?«, erkundigte sie sich. »Ihr habt euch doch nicht etwa gestritten, Mädels?«
»Wo ist Keller?«, fragte Lena.
Louise sah sie mit einem Ausdruck der Überraschung an, der nicht gespielt war. Dann hob sie die Schultern und fuhr sich mit der Fingerspitze über den Mundwinkel, in dem ein einzelner roter Blutstropfen glänzte. Sie leckte die Fingerspitze ab.
»Ich habe nur aufgeräumt«, sagte sie leichthin. »Wir verschwinden von hier, und es gehört nicht zu meinen Angewohnheiten, Spuren zu hinterlassen.«
»Oder Zeugen?«
»Keller war ein Idiot«, sagte Louise. »Aber trotzdem ein leckeres Kerlchen.« Sie startete den Motor, sah übertrieben aufmerksam in den Rückspiegel und fuhr los. »Jetzt noch ein kleiner Abstecher zu Schreiber-Pharmaceutics, und es kann losgehen.« Sie blinzelte Lena zu. »Wir brauchen Reiseproviant.«
Lena sagte auch dazu nichts. Sie musste noch einmal an Charlottes Worte von gerade denken, und eine Mischung aus Hilflosigkeit und reinem Entsetzen machte sich in ihr breit. Wir sind Raubtiere, und du gehörst zu uns, ob es dir nun gefällt oder nicht.
Aber so wollte sie nicht leben. So konnte sie nicht leben.
Sie kam zu einem Entschluss, und sie musste nicht einmal lange warten, bis sie die Gelegenheit bekam, ihn in die Tat umzusetzen.
Louise chauffierte den Wagen zwar zügig in Richtung Stadtmitte, achtete aber streng darauf, weder die Höchstgeschwindigkeit
zu überschreiten noch gegen irgendeine andere Verkehrsregel zu verstoßen. Der Verkehr nahm zu, und auch auf den Bürgersteigen waren jetzt wieder Menschen zu sehen, die unter einem Meer von Regenschirmen dahinhasteten, das bei Tageslicht wahrscheinlich schreiend bunt gewesen wäre.
»Wir fahren jetzt also zu dieser Schreiber-Blutbank?«, sagte Lena.
»Erst machen wir noch einen kleinen Umweg«, antwortete Louise. »Es gibt da noch etwas, was ich Charlotte versprochen habe. Eine … Familienangelegenheit. Es dauert nicht lange.« Sie drehte sich kurz zu Charlotte um, dann lachte sie unecht. »Wenn sie es dir erzählen will, wird sie es
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