Wir sind die Nacht
Großteil der Wagen, die am Straßenrand standen, waren der Abwrackprämie wohl nur entgangen, weil ihre Besitzer nicht einmal für den Kauf eines abgespeckten Dacia kreditwürdig gewesen waren.
»Sind Sie sich sicher, dass das die richtige Adresse ist?«, fragte sie verdutzt.
»Das ist die, die du mir gegeben hast. Keine sehr hübsche Gegend. Ich hab mich auch ein bisschen gewundert.« Er wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort. »Willst du lieber woanders hinfahren?«
Lena sah noch einmal auf die Visitenkarte, die Tom ihr gegeben hatte, verglich die handschriftliche Adresse auf der Rückseite mit dem verblichenen Straßenschild und der Hausnummer und schüttelte dann den Kopf. »Schon gut«, sagte sie. »Das scheint wohl richtig zu sein. Ich war nur … überrascht.«
Der Taxifahrer nickte nur, schaltete das Taxameter aus und deutete mit dem Kopf auf die rot leuchtenden Zahlen im Innenspiegel. »Macht dann zwanzig Euro.«
Es war sogar etwas mehr, aber er hatte großzügig abgerundet. Trotzdem waren es genau zwanzig Euro mehr, als sie besaß. Irgendwie war das lächerlich, dachte sie. Noch vor weniger als einer Stunde hatte sie ungefähr eine Million über der rechten Schulter getragen. Wahrscheinlich mehr.
»Können Sie hier warten?«, fragte sie. »Ich gehe rasch nach oben und hole Geld.«
Der Taxifahrer verdrehte die Augen. Er sah enttäuscht aus, aber auch so, als hätte ihn die Antwort nicht wirklich überrascht.
»Kindchen«, seufzte er. »Für wie dumm hältst du mich? Wenn du ein Problem hast, können wir darüber reden, aber verarsch mich nicht.«
Lena dachte eine halbe Sekunde lang darüber nach, was genau er mit darüber reden meinte, und dann schämte sie sich plötzlich dafür, ihm Absichten unterstellt zu haben, die er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht hatte und die - wenn überhaupt - nicht einmal annähernd so heimtückisch gewesen sein konnten wie ihre, wäre sie auch nur ein bisschen hungriger gewesen.
»Das haben Sie jetzt falsch verstanden«, sagte sie hastig. »Ich will Sie nicht verarschen. Ich hab kein Geld dabei, aber mein Freund bezahlt Sie. Er wartet auf mich. Sie können mitkommen, wenn Sie wollen.«
Sein Blick wurde eher noch misstrauischer, blieb aber zugleich immer noch freundlich. Wenn er noch zögerte auszusteigen, dann allerhöchstens weil er sich vielleicht fragte, ob es in einem Haus wie diesem überhaupt jemanden gab, der in seinem Leben schon einmal einen Zwanziger gesehen hatte. Schließlich zuckte er nur mit den Schultern und machte die Tür auf. Lena stieg auf der anderen Seite aus.
Es regnete immer noch, auch wenn aus dem feinen Nieseln inzwischen eine Art nasser Nebel geworden war, der buchstäblich alles durchdrang (ohne ihre Haut oder ihr Haar auch nur zu berühren), und sie liefen nebeneinander zum Haus. Lena hätte ihm mit Leichtigkeit davonlaufen können, aber da war ein absurdes Gerechtigkeitsgefühl in ihr, das es ihr einfach unmöglich machte … wenigstens für den Moment. Das konnte sie immer noch tun, sollte Tom nicht aufmachen.
Der Eingang war in einem besseren Zustand, als sie erwartet hatte. Das Licht ging automatisch an, als sie sich näherten, und die meisten Klingelknöpfe waren sogar beschriftet. Lena atmete innerlich auf, als sie Toms Namen auf einem der (zumeist
handgeschriebenen) Schildchen entdeckte, rang noch einmal mit der Stimme ihrer Vernunft, die mittlerweile zu einem dünnen, aber eindeutig hysterischen Flüstern geworden war, und brachte sie endgültig zum Verstummen, indem sie entschlossen auf den Klingelknopf drückte.
Nichts geschah. Lena zählte in Gedanken langsam bis zehn, drückte den Knopf noch einmal und länger und versuchte die immer misstrauischer werdenden Blicke zu ignorieren, mit denen der Taxifahrer sie maß. Diesmal zählte sie in Gedanken langsam bis zwanzig, bevor sie die Hand zum dritten Mal nach dem Klingelknopf ausstreckte und ihn jetzt gedrückt hielt.
»Warum hörst du nicht mit dem Theater auf, Mädchen?«, fragte der Taxifahrer. Er klang verärgert. »Ich hab meine Zeit nämlich nicht gestohlen. Wenn du kein Geld hast, dann gib mir deinen Ausweis oder so was, und wir finden eine …«
Etwas knackte, dann drang eine gleichermaßen verschlafen wie unwillig klingende Stimme aus dem Lautsprecher: »Ja, verdammt! Ich bin doch nicht taub! Wer ist da?«
»Tom?«, sagte Lena.
Stille. Lange genug, um schon wieder ein misstrauisches Stirnrunzeln auf der Stirn des Taxifahrers erscheinen zu lassen, dann
Weitere Kostenlose Bücher